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Goldbrokat

Titel: Goldbrokat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Schacht
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nahm uns mit auf die Dschunken oder setzte uns aufs Pferd. Er lehrte uns seine Sprache und die westlichen Manieren. Ich folgte ihm gerne, aber meine Schwester fürchtete ihn.«
    »Wie das?«
    »Sie wuchs bei den Frauen auf, die sie zu einer vornehmen Dame machen wollten.Aber unser Vater wollte auch sie zu einer westlichen Frau erziehen. Er verbot, dass ihr die Füße eingebunden wurden. Sie war gehorsam, aber sie nährte einen Gram.«
    »Es ist sicher nicht leicht, zwischen zwei so unterschiedlichen Kulturen aufzuwachsen, George.«
    »Nein, es ist manchmal schwer. Und manche verachten einen deshalb. Aber mein Vater wusste mich darüber zu trösten, und so wurde ich mehr westlich als chinesisch. Aber trotzdem sagte er immer, ich solle meine Tradition ehren. Er nahm mich auch auf seine langen Reisen im Land mit, damit ich es kennenlernen sollte. Und einmal, ich war wohl so elf, reisten wir bis nach Sezuan. Auf dieser Reise erzählte er von seinem Neffen Drago und dass er ihn noch einmal besuchen wollte. Zwei Jahre war er anschließend fort.«
    George war regelrecht lebhaft geworden, als er berichtete, wie beeindruckt er von den Waren war, die Servatius aus Europa mitgebracht hatte, und wie stolz er war, dass sein Vater ihn von seiner Rückkehr an täglich mit ins Kontor genommen hatte.
    »Aber dann kam der Taifun, und alles war zu Ende.«
    »Es muss furchtbar für dich gewesen sein, George.«

    »Ja, TaiTai. Aber ein Jahr später kam Cousin Drago, und es schien, als ob alles wieder gut würde.«
    Das konnte ich mir denken. Drago hatte offensichtlich sofort die Stelle eines älteren Bruders eingenommen, und da er seinem Paten in vielerlei Hinsicht ähnelte, mochte George sein Vertrauen und seine Zuneigung auf ihn übertragen haben.
    »Er wird dankbar gewesen sein, einen jungen Gehilfen zu haben, der sich sowohl mit den Sitten, mit der Sprache als auch mit den Geschäften auskannte.«
    »Ja, ich habe ihm geholfen. Ein wenig. Auch meine Mutter wollte ihm helfen. Aber...«
    George löste das obere Blatt von seinem Zeichenblock, legte es zur Seite, feuchtete den Pinsel an und rieb ihn über den Tuschestein. Fasziniert sah ich zu, wie er mit schnellen Strichen das Gesicht einer jungen Frau auf das Blatt zauberte. Mochte er sagen, was er wollte, er hatte ein sagenhaftes Talent. Das Mädchen war von beinahe überirdischer Schönheit, die Mischung des Blutes hatte ihr keinen Schaden zugefügt, sondern offensichtlich das Beste von Ost und West zur Blüte gebracht.
    »Deine Schwester?«
    »Ai Ling, die klingende Jade. Meine Mutter sah, dass Cousin Drago an einem heimlichen Leid litt, und befahl ihr, ihn zu trösten. Ai Ling gehorchte.«
    »Sie wurde seine Geliebte, ich weiß, George.«
    »Sie wissen es?«
    »Drago hat es mir erzählt.«
    Jetzt endlich sah er mich an. Ein wenig überrascht, ein bisschen erstaunt. Dann schüttelte er bedauernd den Kopf.
    »Wir hätten es wissen müssen,TaiTai. Meine Schwester hasste zuletzt unseren Vater, und sie hasste auch Drago. Sie wollte nach den chinesischen Traditionen leben und verabscheute die Westler. Meine Mutter gab sich die Schuld daran, es nicht erkannt und damit beinahe Cousin Dragos Tod verursacht zu haben. Sie konnte mit der Schande nicht leben. Und ich... ich habe versucht, Cousin Drago zu helfen, als er mit dem Tod rang. Aber
nun ist er gesund und hat seine Kinder gefunden und Sie, TaiTai.«
    »Woraus dir eine neue Aufgabe erwächst, George. Wer sonst soll meinen Kindern die Sprache beibringen und die chinesischen Sitten und Gebräuche, wenn nicht du?«
    »Ja, aber... aber sie leben doch hier?«
    »Drago wird sie mitnehmen wollen, George. Er hat lange genug auf sie verzichtet. Sei den Kindern ein fürsorglicher älterer Bruder.«
    Jetzt hatte ich seine Aufmerksamkeit endgültig eingefangen. Ich sah, wie er nachdachte, welche Möglichkeiten sich daraus für ihn ergaben, welche Verpflichtung er eingegangen war.
    Und ich? Nun, ich war auch eine eingegangen. Aber die verriet ich ihm jetzt noch nicht. Dafür schob ich das oberste Blatt beiseite und besah mir die Zeichnungen darunter.Traurige Bilder, fallende Blätter, ein zerzauster Rabe. Dann aber auch ganz andere. Ein spielendes Kätzchen, eine Ziege, die aussah, als hecke sie einen bösartigen Streich aus, ein Hund, der meinem Bruder Leander überraschend ähnlich sah, und eine Tigerin – beim wilden Nick -, die aussah wie ich. Alles Tuschezeichnungen, dann aber ein paar mit Bleistift angefertigt, die die Handschrift meines

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