Goldbrokat
Geburt verloren, sie nie kennengelernt, seinen Bruder hatte er mit vierzehn sterben sehen, sein Pate war in den Fluten umgekommen, sein Vater hatte sich von ihm losgesagt, seine Geliebte sich das Leben genommen. Trauer kam an die Oberfläche, Trauer zerplatzte wie schwarze Teerblasen, Trau er wurde zu einem anerkannten Gefühl, das das Jetzt nicht mehr betraf.
Die Zukunft würde kommen, wie sie kommen sollte. Wann, ob und wie die Verträge zwischen den Europäern und den Chinesen zustande kamen, konnte er nicht beeinflussen, sich Sorgen darüber zu machen, würde seine Energie binden.Wann und ob George Liu einen Händler finden würde, der zu guten Preisen Seide anbot, konnte er nicht durch Grübeln beeinflussen. Einzig dann, wenn die Herausforderung an ihn herantrat, war sein Handeln gefordert.
Dann aber schnell und effizient. Dass er es konnte, wusste er. Sein Geschäft hatte er gelernt, die Winkelzüge und Feinheiten, die groben Praktiken wie die filigranen waren ihm, seit er in China tätig war, geläufig geworden.
Wenn das nur auf einem anderen Gebiet ebenso einfach wäre.
Seine beiden Lehrer erwarteten ihn auf der Lichtung mit dem weiten Blick über das Tal. Gemeinsam absolvierten sie die Atemübungen des qi . Dann aber begann der harte Teil der Ausbildung. Einer von ihnen griff ihn an, er versuchte dem Schlag auszuweichen, die Faust abzulenken. Und schon hatte ein Tritt ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Er rappelte sich auf. Schnell wie eine Viper kam der Arm auf ihn zugeschossen, Knöchel trafen schmerzhaft seine geprellte Rippe. Er atmete tief ein, um sich nicht von der Pein überwältigen zu lassen.Vergeblich war seine jämmerliche Abwehr gegen den Stoß in seinen Magen. Er krümmte sich, sein Lehrer wartete wortlos, bis er sich wieder aufgerichtet hatte.
»Die Zeit des Nichthandelns ist vorüber.«
Hatte das jemand zu ihm gesagt? Hatte er das laut gedacht? War es eine Eingebung?
Er blickte dem jungen Mönch in die Augen, und plötzlich sah er das feine Gespinst, das sie beide miteinander verband. Nein, nicht sehen, spüren konnte er es, so wie er vor einiger Zeit die Absicht des kaiserlichen Schmetterlings gespürt hatte, als er fortfliegen wollte.
Handeln war das Gebot. Und so handelte er, als das feine Gespinst seine Struktur änderte. Die Faust traf auf seinen Unterarm, bevor sie seinen Solarplexus berührte, aus der Drehung heraus hakte sein Fuß sich hinter das Standbein seines Lehrers und brachte ihn zu Fall.
Der saß nun mit dem Hintern im Gras und lachte, stand geschmeidig auf und verbeugte sich.
Gut, die nächsten Male war er wieder der Verlierer, aber dennoch konnte er einige Treffer landen. Sein Rhythmus, sein Zeitgefühl hatte sich verändert, stellte er fest, nicht sein Gegner.
Mit tiefer Genugtuung schlenderte er bei Einbruch der Dämmerung mit den beiden Mönchen zum Essen. Die aufgeplatzte Lippe störte ihn wenig, die würde heilen. Das Gespür
für den richtigen Zeitpunkt, das würde er nie wieder verlieren. Er würde es ignorieren können, es leugnen oder unterdrücken – wissen würde er immer darum.
Welch ein Geschenk, dachte er, als er Reis und eingelegtes Gemüse in seine Schale füllte.
Ein gelungener Fehltritt
So sei doch höflich! Höflich mit dem Pack?
Mit Seide näht man keinen groben Sack!
Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien
»Es ist keine leichte Entscheidung, Ariane«, stimmte mir Madame Mira zu und beugte sich noch einmal über die beiden Listen, die ich angelegt hatte.
»Leisten kann ich mir das eine wie das andere, aber welches hat die größeren Vorteile?«
Wir diskutierten über mein zukünftiges Atelier. Mit Madame Miras Hilfe hatte ich eine Aufstellung von Voraussetzungen angefertigt, die das Etablissement haben musste. Ich brauchte einen Ausstellungs- und Empfangsbereich, eine angemessen große und praktische Anprobe, ein helles Nähzimmer, in dem ich auch meine neu erworbene Nähmaschine unterbringen konnte, an der ich derzeit in LouLous Kostümfundus übte, und ich benötigte ein ausreichendes Stofflager. Die Räume an der Breiten Straße erfüllten diese Bedingungen, mehr aber auch nicht. Das Haus in der Zeughausstraße hatte darüber hinaus noch eine Küche im Halbkeller und ein viertes, zum Hinterhof hinaus liegendes Zimmer.
»Die Breite Straße ist mondäner, das sollten Sie bedenken. Und zuvor gehörte es einer Putzmacherin, weshalb die Adresse einigen Damen sicher noch in Erinnerung sein wird.«
»In den anderen Räumen war ein
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