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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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dir zeigen, wie man die Töne hält. Außerdem sind Kirchenlieder viel leichter zu singen als chinesische Opern.«
    »Singst du denn auch?«
    »Ja, ich singe sehr gern, obwohl ich keine besonders gute Stimme hab. Aber das ist egal. Ich könnte andauernd
Jasmine, Sweet Jasmine
singen.«
    Sie fing das Lied an, und ich stimmte ein. Als es zu Ende war, sang sie es noch einmal im Yangzhou-Dialekt, im Suzhou- und im Nanjing-Dialekt, und ich sang immer mit.
    »Hast du eine chinesische Lieblingsoper?«, fragte ich, nachdem wir alle Dialekte durch hatten.
    »The Butterfly Lovers!«
    »Das ist meine auch!«
    »Welche Version, die der Ming-Dynastie oder der Ching-Dynastie?«, fragte Pearl.
    Ich staunte über ihr Wissen. »Natürlich die der Ching-Version.«
    Sie nickte, und wir fingen an.
    Ich lebe am Jangtse nahe der Quelle
    und du wohnst ganz weit unten am Lauf.
    Wir trinken Wasser aus demselben Fluss,
    nie sah ich dich, doch täglich erscheinst du mir im Traum.
    Wann hört das Wasser dieses Flusses auf zu fließen?
    Wann werde ich dich nicht mehr lieben so wie jetzt?
    Ach, würden unsere beiden Herzen schlagen doch wie eins,
    und du würdest meine Liebe zu dir nicht verschmähn.
    Hand in Hand spazierten wir am Ufer entlang. Ich fragte, ob sie zu Hause chinesische Opern singen dürfe.
    »Machst du Witze?«, erwiderte sie. »Absalom erlaubt nur Kirchenlieder.«
    Ich fragte sie, ob sie sich mit ihren Eltern verstand.
    »Meine Eltern essen mit Messer und Gabel, ich mit Stäbchen.«
     
    Als wir ankamen, waren Absalom und Carie nicht da, so dass Pearl mir das ganze Haus zeigte. Es war aus Ziegelstein und Holz und hatte drei Zimmer. Das mittlere diente zum Wohnen und Essen, rechts und links waren die Schlafzimmer. Pearl teilte ihres mit ihrer kleinen Schwester, Grace. Im Elternschlafzimmer stand ein großes Holzbett mit frischen weißen Bettlaken aus grobem Stoff. Die Flecken an der Wand stammten vom undichten Dach. Alles war sehr sauber, selbst die alten Möbel glänzten. Pearl zeigte auf die rosa Gardinen. »Die hat Mutter selbst genäht, mit Stoff aus Amerika.« Neben dem Haus standen zwei große Keramikkrüge mit Flusswasser. Ich war überrascht, dass sie genauso lebten wie wir.
    »Mutters Tür steht immer offen«, sagte Pearl.
    »Sie lässt jeden rein, der anklopft?«
    »Meine Eltern freuen sich über jede Gelegenheit, anderen Menschen Jesus Christus nahezubringen.«
    »Aber deiner Mutter sind die Menschen selbst wichtig, oder?«
    »Ja, meiner Mutter schon, sehr sogar. Aber für meinen Vater gibt es nur Gott.«
    »Ich weiß nicht, ob es so klug ist, die Tür immer offen zu haben«, sagte ich. »Bettler könnten kommen, die schwer wieder rauszukriegen sind.«
    »Mutter sagt immer, die Leute, die kommen, sind ›zu arm, sich einen Strick zum Aufhängen zu kaufen‹. Sie nennen sie ›Fremde Herrin, Carie
TaiTai
‹ und betteln um Essen.«
    »Deine Mutter muss einiges ertragen.«
    »Mein Vater mutet ihr noch viel mehr zu.« Pearl erzählte mir, dass Carie ihren Mann damals zu überreden versucht hatte, China zu verlassen, um ihre todkranken Kinder zu retten.
    »Will deine Mutter immer noch weg?«, fragte ich.
    »Nein, sie hat aufgegeben.« Pearl hielt inne, dann fuhr sie fort. »Am meisten freut sich meine Mutter, wenn Seeleute aus Amerika zu Besuch kommen. Sie backt ihnen Plätzchen, was sie immer sehr zu schätzen wissen. Wenn sie dann gegessen und reichlich Wein getrunken haben, singen Mutter und die Seeleute ›Fern der Heimat‹ zusammen und lachen und weinen alle gleichzeitig.«
     
    Wie Pearl vorausgesagt hatte, freute sich Carie, dass ich in ihrem Kinderchor mitsingen wollte. Sie setzte sich ans Klavier, und ich sang »Amazing Grace«.
    Carie zeigte mir, wie man bei hohen Tönen richtig atmete. Ich lernte auch, meine Stimme nicht zu überanstrengen. Sie fing an, mir andere Lieder vorzusingen, und obwohl ich kein Wort verstand, verliebte ich mich in ihre Stimme und versprach, weiterhin zum Unterricht zu kommen. Carie glaubte, dass meine Stimme durch Übung besser würde, und nach ein paar Monaten zeitigten sich erste Erfolge. Ich konnte mühelos die hohen Töne halten und Caries Stimme nachahmen. Zudem besaß ich die Fähigkeit, mir ein Lied zu merken, das sie mir nur einmal vorgesungen hatte. Schon bald lud Carie mich ein, bei Absaloms Sonntagsgottesdienst zu singen. Ich tat es so gefühlvoll, als würde ich den Text verstehen.
    Pearl war stolz. Sie strahlte übers ganze Gesicht, als Carie sagte: »Ich danke Gott für

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