Goldener Bambus
wir Räucherstäbchen verbrennen, taub und blind sind. Habt keine Angst mehr, denn Jesus ist hier, um uns zu helfen. Ihr müsst nur einen Neuanfang machen und euch von Absalom registrieren lassen.«
Papa wandte sich an Lilac, eine siebzehn Jahre alte Witwe, die Eier verkaufte. »Vermute ich richtig, dass Buddha Ihre Gebete nicht erhört hat?«
»Stimmt, das hat er nicht«, erwiderte Lilac.
»Verlieren Sie den Glauben an ihn?«
»Ich fürchte ja.«
»Sie sind enttäuscht.«
»Ich will Buddha nicht beleidigen, aber so ist es.«
»Lilac, seit der Kindheit gehen Sie in den Tempel. Aus den Räucherstäbchen, die Sie schon verbrannt haben, kann man einen Hügel bauen. Hat sich Ihr Leben zum Guten gewendet? Sie sind zweimal gekauft und wieder verkauft worden. Sie sind mit einem todkranken Mann verheiratet und gezwungen worden, auf dem Feld zu schlafen, um sein
Yin
und
Yang
in Einklang zu bringen. Sie sind mit Müh und Not der angeheirateten Verwandtschaft entflohen und nach Chinkiang gekommen, ohne Freunde oder Familie hier zu haben, und das hat sich nicht geändert. Haben Sie jemals den Gott, den Sie anbeten, in Frage gestellt?«
Lilac schüttelte den Kopf und fing an zu weinen.
»Nun, dann betrachten Sie Ihre Enttäuschung als Investition!«, sagte Papa.
»Investition?« Lilac machte große Augen.
Absalom runzelte die Stirn.
Nie zuvor waren Papa die Worte so aalglatt über die Lippen gekommen. »Diese Investition schützt Sie vor weiteren schlechten Entscheidungen, damit Sie nicht für alle Zeiten eine Gefangene der bösen Geister bleiben!«
»Aber ich habe immer Räucherstäbchen verbrannt!«, protestierte Lilac. »Ich verdiene etwas Besseres als ewiges Unglück!«
»Haben Sie sich jemals gefragt, warum Sie immer noch vom Unglück verfolgt werden?«, fragte Papa.
Lilac schüttelte den Kopf.
»Warum Sie und sonst niemand?«
»Warum?«
Um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, schlug Papa die rechte Faust in die linke Hand. »Weil Sie den falschen Gott anbeten!«
Lilac war fassungslos.
»Der Christengott sagt, Sie verdienen eine Chance auf ein besseres Leben. Ja, Lilac, Sie!« Papa gebärdete sich wie ein Opernsänger auf der Bühne. »Gott sagt mir, dass Lilac die gleiche Chance verdient wie Sein geliebter Sohn Jesus Christus! Und jetzt nennen Sie mir einen Wunsch und fordern Sie, dass er in Erfüllung geht!«
»Das will ich gern tun«, erwiderte Lilac leise. »Am allermeisten wünsche ich mir, dass aus meinen Eiern Hühner werden.«
Ich mochte Lilac, weil sie sich nie über ihr Unglück beklagte und immer fröhlich und nett war. Vor dem Winter war ihr Eierbrütservice stets ausgebucht. Dieses Jahr befand sie mich für alt genug, die guten von den schlechten Eiern zu trennen, und stellte mich ein. Zu meiner Überraschung war Pearl auch da, und ich erfuhr, dass sie schon als kleines Kind in Lilacs Eierhaus gespielt hatte. Lilac schwärmte von Pearl, weil sie so zuverlässig war. Carie erlaubte ihrer Tochter, Lilac zu helfen, weil sie dabei etwas lernen konnte. Und Pearl machte die Arbeit so viel Spaß, dass sie oft vergaß, abends nach Hause zu gehen. Dann kam Wang Ah-ma und holte sie.
Lilac bat Pearl, mich einzuweisen. Ich lernte, dass die Eier etwa eineinhalb Monate brauchten, um ausgebrütet zu werden. Pearl erklärte mir, dass alle Eier, die zu klein waren, eine zu dünne oder angeschlagene Schale oder ein kaputtes Eigelb hatten oder schon zu lange lagerten, aus dem Hauptkorb aussortiert werden müssten.
Pearl liebte es, die Eier zu durchleuchten. Dazu dichtete Lilac das Eierhaus ab, so dass nur noch ein kleines Loch blieb, durch das Sonnenlicht einfiel. Abwechselnd hielten Pearl und ich ein Ei nach dem anderen davor. Das wurde »der erste Blick« genannt. So konnten wir sehen, ob das Eigelb eine Perle enthielt. Wenn ja, war das Huhn von einem Hahn besucht worden, und das Ei würde sich in ein Küken verwandeln.
Nach der Prüfung legten wir die Eier mit der Perle in warme, mit Baumwolle gepolsterte Körbe, die Lilac abholte und unter ihr großes gemauertes Bett hinter dem Ofen stellte. Nun mussten wir vier Tage warten, um »den zweiten Blick« darauf werfen zu können.
Erst dann konnte man sehen, ob die Perle gewachsen war. Lilac zeigte uns, wie wir das Ei in der Handfläche hin- und herrollen und im Schein der Sonne von allen Seiten betrachten mussten. Wir suchten einen Schatten, die Perle. Das war nicht einfach und brauchte ein geübtes Auge. Wir sortierten die Eier aus, deren Perle nicht
Weitere Kostenlose Bücher