Goldener Bambus
Weide.«
Auch Absalom war beeindruckt. »Weiter so im Dienste des Herrn«, ermunterte er mich.
Ich wusste, dass Papa sich nichts aus Gott machte und nur so tat als ob. Deshalb fiel es auch mir nicht schwer. Am liebsten saß ich neben Carie, wenn sie Klavier spielte. Sie stellte nie Fragen, um mein Wissen über Gott zu testen, und ich war dankbar, einfach nur dasitzen zu dürfen. Carie fand, dass ein Kind die Freuden der Musik kennenlernen müsse, und sang alles, was ihr in den Sinn kam. Ich konnte die Jahreszeiten in ihrer Stimme hören – der Frühling klang wie der Jangtse, der die Bäche mit Wasser füllte, der Sommer wie die Berührung durch die Sonne; der Herbst war voller Farben, die vibrierten und meine Sinne schärften, und ihre Winterstimme war tief und erzählte vom Schnee.
Wenn ich bei Carie saß, war ich glücklich. Doch ab und zu erfüllten die Lieder mein Herz mit Traurigkeit. Das passierte aber nur, wenn ich selbst sang. Plötzlich schnürte sich mir die Kehle zu, und ich fing an zu weinen.
»Lass uns eine Pause einlegen«, sagte Carie dann und legte den Arm um mich. »Ich spiele dir mein Lieblingslied vor.«
Jedes Mal gelang es ihr, mich mit Musik aufzuheitern. Wenn sie gute Laune hatte, sangen wir im Duett. Ich liebte den Klang, den wir gemeinsam erschufen. Wenn ich in jener Zeit anfing, mir einen Himmel vorzustellen, dann wegen des gemeinsamen Singens mit Carie.
»Weide, ich würde dir so gern Amerika zeigen«, sagte Carie eines Tages.
Sie erzählte mir von ihrer Heimat, und dass sie nicht vorhatte, für immer in China zu bleiben. Es sei ihre christliche Pflicht als Ehefrau gewesen, betonte sie, Absalom nach China zu folgen und ihre Zelte in der kleinen Stadt Chinkiang aufzuschlagen. Aber ausgesucht hatte sie sich das nicht.
Ich fragte Pearl, ob sie genauso dachte wie ihre Mutter.
»Also, China ist mehr Heimat für mich als Amerika«, antwortete sie nüchtern. Pearl war drei Monate alt gewesen, als ihre Eltern mit ihr Amerika verließen. »Amerika ist das wahre Zuhause meiner Mutter, und sie sagt, meins ist es auch.« Sie hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Amerika ist das Land, aus dem meine Mutter stammt und in das sie wieder zurückkehren möchte.«
»Und du?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht, wo ich einmal landen werde.«
Ich fragte, ob Amerika ihr fehle, und sie lachte. »Wie kann mir etwas fehlen, das ich nicht kenne?« Was mit ihren Verwandten in Amerika sei, wollte ich wissen. »Ich weiß nur ihre Namen«, erwiderte sie, »aber ich habe sie nie kennengelernt. Meine Eltern erzählen mir von meinen Tanten, Onkeln und Cousins, aber das sind Fremde für mich. Außer meinem Vater und meiner Mutter und Schwester kenne ich nur dein Volk. Ich habe Angst, dass mein Vater eines Tages zurück nach Amerika will. Für mich ist es unvorstellbar, China zu verlassen.«
Ich sah sie an und versuchte, mir den Moment ihrer Abreise vorzustellen.
»Irgendwie ist es traurig, dass meine Mutter nicht so ist wie mein Vater«, sagte sie nach einem Moment des Schweigens. »Absaloms Zuhause ist dort, wo Gottes Werk verrichtet werden muss. Ihm ist es egal, ob er in Amerika oder China lebt. Aber meine Mutter lebt mit einem gebrochenen Herzen. Sie empfindet ihr Dasein als Exil und klammert sich an ihr Klavier, weil es aus der Heimat stammt.« Mir war auch schon aufgefallen, wie sorgsam Carie das Klavier behandelte. Um es vor der Erdfeuchtigkeit zu schützen, hatte sie seine Füße in Pantoffeln gesteckt. Nach der Regenzeit stand in den Häusern von Chinkiang immer Wasser, und Holzmöbel mussten auf Backsteine gehievt werden. Manchmal war das Wasser so hoch, dass wir auf Holzbrettern von Zimmer zu Zimmer gingen. Caries größte Sorge war es, dass irgendwann ihr Klavier faulen würde.
Wir übten für die Weihnachtsaufführung. Carie hatte die Texte vom Englischen ins Chinesische übersetzt. Obwohl ich keine der beiden Sprachen lesen oder schreiben konnte, gefiel mir der Klang der englischen Version besser. Als ich Carie sagte, dass »Stille Nacht« in Englisch schöner klang als in Chinesisch, antwortete sie: »Die Botschaft eines Liedes sollte wichtiger sein als die Schönheit des Klanges.«
An Heiligabend lockten die singenden Kinder viele Leute von der Straße in die Kirche. Nie zuvor hatte Absalom so viele Besucher gehabt, und zum ersten Mal strahlte er übers ganze Gesicht. Zur Feier des Tages verzichtete er auf seinen falschen chinesischen Zopf und trug das schulterlange braune Haar offen. Die
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