Goldener Bambus
Leute brauchten einen Moment, um sich an sein neues, westliches Aussehen zu gewöhnen. Papa erzählte NaiNai, dass dieser Aufschwung gerade rechtzeitig geschah, denn Absalom hatte vor kurzem etwas Schlimmes erlebt: Bei einer Predigt im Nachbarort war er von Leuten, die noch nie im Leben einen Fremden gesehen hatten, geschlagen worden. Sie dachten, er wolle ihnen schaden, und hatten sogar Hunde auf ihn gehetzt, um ihn zu verjagen.
Pearl zeigte mir Caries Garten. »Mutter ist fest entschlossen, einen amerikanischen Garten anzulegen, und hat Pflanzen aus Amerika mitgebracht. Das da ist Hartriegel, und das ist Mutters Lieblingsrose, die Mister Lincoln.«
»Die sehen aus wie chinesische Schmetterlingsblumen.« Ich zeigte auf den Hartriegel. »Und die Mister Lincoln ist bestimmt mit unserer Pfingstrose verwandt.«
»Sicher gibt es da irgendeine Verbindung. Mutter sagt, Gott hat die Natur genauso erschaffen wie die Menschen. Was wir sehen, ist Gottes große Güte.«
»Glaubst du wirklich an Gott, Pearl?«, fragte ich.
»Ja«, sagte sie. »Aber du kennst mich ja. Ich bin auch Chinesin. Über gewisse Dinge kann ich mit meinen Eltern nicht sprechen, aber das ist ihnen egal.«
»Bist du auch manchmal verwirrt?«, fragte ich vorsichtig. »Ich meine, was Gott betrifft?«
Sie kickte einen Stein von der Straße. »Es tut mir weh, dass Gott die Gebete meiner Mutter nicht erhört.«
»Ist deine Mutter wütend auf Gott?«
»Mutter ist wütend auf Vater, nicht auf Gott«, erklärte Pearl. »Sie kann den Tod meiner vier Brüder nicht akzeptieren.«
»Ist das der Grund, warum sie keinen Gottesdienst abhält, obwohl sie besser chinesisch spricht als Absalom?«, fragte ich.
Pearl nickte. »Mutter möchte gern an Vaters Arbeit glauben, aber sie kann es nicht. Sie hat mir erzählt, wie schwer es ihr fällt, frohen Mutes zu sein.«
»Deine Mutter zeigt uns die Güte Gottes.«
»Mutter sagt, sie hilft anderen, weil es ihr hilft, die eigenen Wunden zu heilen.«
»Eine Frau versteckt ihren gebrochenen Arm im Ärmel ihres Kleides«, sagte ich Pearl, NaiNai zitierend. »Deine Mutter hat ihre Eltern für einen verrückten Ehemann verlassen.«
Pearl und ich fanden, dass Gott Caries Leben hier auf seltsame Weise erträglich gemacht hatte. Anfangs konnte sie die Leute im Ort nicht dazu bringen, in Absaloms Kirche zu kommen. Aber als sie begann, sich um die Kranken und Sterbenden zu kümmern und westliche Medizin für Menschen und Tiere anzuwenden, ohne Geld oder Geschenke zu verlangen, füllte sich auch Absaloms Gotteshaus.
Carie befürchtete, dass ich Pearl vom Lernen abhielt. Absalom war nicht dieser Ansicht. »Pearl tut dem Herrn einen großen Dienst, wenn sie die Gelegenheit ergreift, ihre Freundin zu beeinflussen«, sagte er ihr.
Um meine Freundschaft mit seiner Tochter zu fördern, gab Absalom mir Geschenke, darunter auch ein selbstgemaltes Bild von Christus. Absalom wollte, dass Pearl mir mit Hilfe seiner Bibelübersetzung Gott näherbrachte, doch stattdessen alberten wir herum. Pearl fiel es schwer, die Verbreitung von Gottes Wort ernsthaft zu betreiben. Nur wenn wir Absaloms Schatten am Fenster sahen, rezitierten wir mit lauter, theatralischer Stimme die Bibel.
Carie stellte neue Regeln für unser Zusammensein auf. Von nun an durfte Pearl erst dann mit mir spielen, wenn sie mit Lernen fertig war. Carie unterrichtete ihre Tochter selbst. Nur Chinesisch wurde ihr von Mr Kung, einem essstäbchen-dünnen Chinesen Mitte fünfzig, beigebracht. Ich saß dann immer bei der Tür und wartete geduldig. Mir fiel auf, dass Pearl oft weiter war als Mr Kung. Das Buch
Die Räuber vom Liang-Schan-Moor
hatte sie schon vor Unterrichtsbeginn zu Ende gelesen. Sie erzählte mir, dass es von einer Gruppe armer Bauern handelte, die aus einer verzweifelten Lage heraus zu Banditen wurden. In der Geschichte forderten sie Gerechtigkeit und wurden zu Helden. Mr Kung war sehr beeindruckt, dass Pearl sich alle einhundertundacht Schriftzeichen merken konnte, kritisierte sie aber in typisch chinesischer Lehrermanier. »Ein wirklich kluger Mensch …«, Mr Kung hielt inne, strich mit Daumen und Zeigefinger über den Ziegenbart und fuhr fort »… weiß seinen Scharfsinn zu verbergen.«
»Ja, Mr Kung«, erwiderte Pearl demütig und zwinkerte mir zu.
Den Tag, an dem Absalom ihn zum »Geistlichen« machte, feierte Papa.
»Ich dachte, bestenfalls Kirchendiener zu werden.« Papa saß auf der Türschwelle und weinte.
NaiNai war außer sich
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