Goldener Bambus
Pearl schienen die rückläufigen Zahlen nicht zu stören, sie hatte weiter ihre Nase im Buch stecken.
Ich fragte mich, was aus uns werden würde, wenn Papa seine Arbeit verlor. NaiNai war während des Winters noch kränker geworden. Die Arznei hatte ihre Wirkung verloren, aber NaiNai zögerte, den Arzt zu rufen, weil sie nicht noch mehr Schulden machen wollte. Bei der Vorstellung, NaiNai zu verlieren, schossen mir Tränen in die Augen. Als ich den Kopf nach hinten legte, um sie zurückzudrängen, fiel mein Blick auf die Kirchendecke. Dort oben ging etwas Merkwürdiges vor sich. Die Balken waren voller brauner Stellen. Ich zeigte Pearl meine Entdeckung. Sie vermutete, dass es sich bei den Stellen um Insekten handelte.
Während der nächsten Tage beobachteten wir das Ganze. Die Insekten rührten sich nicht vom Fleck. Eine Woche später waren sie dicker geworden und hatten sich in grüne Blätter verwandelt.
»Sie wachsen!« Pearl und ich sahen uns aufgeregt an.
Nach einer Woche hatten die Blätter die ganze Deckenecke begrünt und streckten ihre Triebe schon zum Fenster und der Tür hin. Alle unsere Freunde kamen, um sich das anzusehen. Zu Hause erzählten sie ihren Eltern von dem grünen Wunder an der Kirchendecke.
Es stellte sich heraus, dass es Weidentriebe waren, denn die Dachbalken bestanden aus Weidenstämmen. Obwohl entrindet, hatte das warme Frühlingswetter sie wieder zum Leben erweckt.
Die Nachricht, dass der fremde Gott einen Beweis seiner Existenz geliefert hatte, brachte die Menschen zurück in die Kirche. Papa nannte die Kirchendecke den Garten Gottes, und als Absalom zurückkehrte, war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Weidenbalken blühten. Die neuen Triebe waren bis zu zwei Metern lang, und wenn eine Brise durchs Fenster wehte, flatterten die Blätter wie Arme von Tänzerinnen im Raum.
Mit Absalom an seiner Seite, las Papa aus der Offenbarung des Johannes. Die Leute hörten zu und bestaunten dabei das wundersame Werk Gottes. Bienen, Schmetterlinge und Vögel flogen im Zimmer umher und machten die kleinen Kinder unruhig.
5 . Kapitel
D
ie Operntruppe mit dem Namen
Wan Wan
kam in unsere Stadt, um beim Frühlingsmondfest
The Butterfly Lovers
aufzuführen. Als Pearl und ich das hörten, waren wir überglücklich. Pearl flehte Carie an, mich und NaiNai begleiten zu dürfen. NaiNai sagte, es sei die letzte Opernaufführung, die sie vor ihrem Tod sehen wollte.
Für die Vorstellung machten wir uns schön. Ich trug ein Baumwollkleid mit blauen Blumen und Pearl ein violettes, mit rosa Schmetterlingen besticktes Seidenkleid. Ihr lockiges Haar stopfte sie unter die schwarze Strickmütze. Von hinten sahen wir aus wie Zwillinge. Mit selbstgemachten Halsketten aus frischen Jasminblüten gingen wir Hand in Hand zum Fluss, wo die Oper aufgeführt werden sollte.
Die Bühne, ein leerstehender Tempel mit vier Säulen, war direkt am Ufer. Bei Sonnenuntergang trafen die Leute ein. Einige kamen mit dem Boot, andere sahen von Hausdächern aus zu oder beobachteten das Geschehen von einem Hügel. Mit NaiNai in der Mitte, drängten Pearl und ich uns durch die Menschenmenge bis dicht vor die Bühne. Während wir warteten, dass der Vorhang aufging, gab NaiNai uns geröstete Sojanüsse zu essen.
Schließlich setzten die Trommeln ein. Unsere Herzen rasten. Im Chor mit den anderen jubelten wir:
»Wan Wan! Wan Wan!«
Der Vorhang öffnete sich. Die Stimmungsmacher betraten die Bühne, gefolgt von Rad schlagenden Akrobaten. Chorsänger führten in die Geschichte ein. Kurz darauf erschienen die Schauspieler. Die Hauptrolle des männlichen Liebhabers, den schönen Liang, spielte eine Frau. Sie trug viel Make-up und ein prächtiges sonnenfarbenes Kostüm mit langen Jadeperlen. Ihre Stimme besaß jenen kupfernen Klang, der bei Opernfans als höchstes Qualitätsmerkmal einer jungen männlichen Stimme galt. Ihre Wan-Wan-Lieder trieben NaiNai Freudentränen in die Augen.
Mein Blick folgte jeder Bewegung von Liang. Seine Geliebte, Yin-tai, trug ein langärmliges rosa Seidenkleid und war von außerordentlicher Schönheit. Sie bewegte sich wie eine Göttin, die aus den Wolken hinabtrat. Ihre liebliche Stimme kam mir jedoch etwas angestrengt vor.
Als es ganz dunkel war, tauchten Laternen die Bühne in helles Licht. Vor unseren Augen entfaltete sich die Geschichte. Die Liebenden gestanden sich ihre Gefühle füreinander und kämpften gegen die feudalen Mächte, die sie zu trennen versuchten. Am Ende weinten Pearl und
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