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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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zieht die jungen Leute an. Es gibt für ihn nichts anderes, und er ist stur, ein Fanatiker. Seine Tatkraft und Entschlossenheit faszinierten die jungen Leute. Mehr als alles andere verkauft er den Sieg Gottes. Die Leute wollen einem starken Mann folgen, einem Führer.«
    Ich fragte Papa: »Wie kannst du ein Pfarrer sein, wenn du nicht hundert Prozent an Gott glaubst?«
    »Sprich nicht so laut, meine Tochter.« Papa war verlegen. »Du musst mein Geheimnis für dich behalten. Absalom sagt, Gott wird mich rufen.«
    »Wartest du darauf?«
    »Ja, und ich muss Geduld haben.«
    »Hoffentlich meinst du das auch ernst.«
    »Das tue ich«, schwor Papa.
     
    Im Winter 1899 herrschte eisige Kälte. Himmel und Hügel verschmolzen zu einem bitterkalten Wirbel aus Schnee und Wind, was im Süden Chinas nur selten vorkam. Morgens lagen die Dörfer wie unter einem weißen Tuch. Das Wetter verhalf Papa zu der Zuhörerschaft, die er Absalom versprochen hatte. Vom warmen Feuer in der Kirche angelockt, versammelten sich die Armen unter dem Bildnis von Jesus Christus und beteten.
    Papa erzählte die Bibelgeschichten nicht so wie Absalom, sondern wie eine chinesische Geschichte, mit spannendem Anfang und befriedigendem Ende.
    Absalom, von seiner Reise zurückgekehrt, missfielen Papas Übertreibungen und Erfindungen. Besonders dann, wenn Papa Jesus mit chinesischen Helden verglich, manchmal sogar mit dem fiktiven Affenkönig. Papa erwiderte, dass der Affenkönig genauso herzensgut wie Jesus sei und nur eines zähle, nämlich die Leute in die Kirche zurückzuholen.
    »Halten Sie sich zukünftig an die Bibel«, befahl Absalom ihm. »Betonen Sie, dass der Weg der Gläubigen durch ein Leben in Armut und voller Entbehrungen führt.«
    Papa rang Absalom die Erlaubnis ab, den Buddhismus wenigstens erwähnen zu dürfen. »Ich benutze buddhistische Vorstellungen, um die Menschen behutsam dem Christentum zuzuführen«, versprach er. Als Absalom Zweifel äußerte, erwiderte Papa: »Niemand hört gern, dass die eigene Religion schlecht und dumm ist.«
     
    Die Leute kamen zwar zum Gottesdienst, doch niemand wollte konvertieren. Also gebrauchte Papa seinen Verstand und wurde erfinderisch. Inspiriert vom örtlichen Wahrsager, kopierte er Bilder aus der Bibel auf Karten, mit denen er dann mit den Einheimischen spielte. Wenn sie der Kirche beitraten und Gott gehorchten, würden sie mit guten Ernten, Söhnen und einem langen Leben belohnt. Als Strafen dienten Papa Szenarien der chinesischen Hölle, in der Frauen und Männer in Stücke gehackt und an wilde Tiere verfüttert wurden.
    Pearl musste herzlich lachen, als Papa die Namen von chinesischen Göttern durch die von christlichen Heiligen ersetzte, zum Beispiel
Guang Yin
durch
Mary
.
    »Dafür wird ihm Absalom den Hals umdrehen«, sagte sie.
    Ich fragte, ob sie ihren Vater vermisste, wenn er auf Reisen war. Sie sagte nein. »Dafür kenne ich ihn nicht gut genug.« Sie war von Papa begeistert und fand ihn witzig und kreativ. Seine Segenssprüche zum neuen Jahr und die Rätsel, die er allesamt aus Bibelstellen bildete, gefielen ihr besonders gut. Zudem ließ Papa die Leute Bibelstäbchen ziehen – eine Idee, die er von den Buddhisten gestohlen hatte, wo das Ziehen von Glücksstäbchen im Tempel zur Zeremonie gehörte.
    Absalom beschwerte sich weiterhin und drohte sogar, Papa zu entlassen. Doch von den Ergebnissen war er beeindruckt. Immer mehr Menschen kamen zum Gottesdienst. Die Kirche von Chinkiang war jetzt in der ganzen Provinz bekannt, auch wenn immer noch nicht genug Leute konvertierten.
     
    Sowohl Pearls Vater als auch meiner wollten, dass wir unseren Spielgefährten von Gott erzählten. Mir war nicht wohl dabei, über einen fremden Gott zu reden. Pearl verstand das. Wir bestachen unsere Freunde mit Spielen und Essen, damit sie versprachen, sonntags zum Gottesdienst zu kommen. Das funktionierte so lange, bis sie Papas Bibelgeschichten in- und auswendig kannten. Wenn es keine neuen Geschichten gab, kamen sie nicht mehr. Inzwischen war es Frühling geworden, und die Arbeiter verließen die Stadt, um zu Hause auf den Feldern zu arbeiten.
    Papa machte sich Sorgen, weil die Besucherzahlen rückläufig waren, was Absalom nach der Rückkehr von seiner derzeitigen Reise merken würde. Er wollte seinen Job nicht verlieren und bemühte sich jeden Abend, die Bibelgeschichten neu zu variieren.
    An mehreren Sonntagen saßen Pearl und ich hinten in der Kirche, während Papa in einem fast leeren Raum sprach.

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