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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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ich, weil die Unmenschlichkeit der Gesellschaft sie in den Selbstmord getrieben hatte.
    Viele Jahre später erzählte mir Pearl, dass sie damals die chinesische Version von
Romeo und Julia
kennenlernte, noch bevor ihr der Name Shakespeare begegnet war.
    Die toten Liebenden kehrten als Schmetterlinge ins Leben zurück. Sie fanden erneut zusammen und waren glücklich bis an ihr Lebensende. Eine Tragödie mit glücklichem Ausgang. Ihre riesigen Flügel ausbreitend, tanzten die Liebenden und sangen:
    Träume beherrschten mich
    Ich streifte umher und fand endlich dich
    Wir saßen auf der Veranda
    Und du sangst die süße alte Weise
    Dann wachte ich auf
    Und niemand war in meiner Nähe
    Der Mond schien immer noch
    Ließ tote Blüten leuchten
    Und ich dachte, du wärst gekommen und wieder gegangen
    Nach der Aufführung begleiteten Pearl und ich NaiNai nach Hause, gingen dann aber zurück und warteten am Bühnenausgang. Wir hofften, einen Blick auf die Schauspieler zu erhaschen, fasziniert davon, dass das ganze Ensemble aus Frauen bestand. Es wurde von einer schildkrötengesichtigen, kahlköpfigen Dame angeführt, die in der Oper den bösen reichen Mann gespielt hatte. Pearl entdeckte die Schauspielerinnen, die die männliche Rolle des Liang und das Mädchen Yin-tai gespielt hatten. Letztere war ohne Make-up und Kostüm spindeldürr. Sie saß bleich und den Kopf an die Wand gelehnt auf einem Stuhl und wirkte krank. Liang half ihr aus den Stiefeln, faltete das Kostüm zusammen und packte alles zurück in die Koffer.
    Die Truppe wohnte auf zwei Booten am unteren Ufer, wo Fäkalien und Abfall hingekippt wurden. Obwohl es dort furchtbar stank, gingen wir erst wieder weg, als die Schildkrötenfrau drohte, unsere Eltern zu rufen.
    Auf dem Nachhauseweg unterhielten Pearl und ich uns über die Oper. Wir sangen Wang-Wan-Lieder und das Titellied von
The Butterfly Lovers
und tanzten wie Schmetterlinge mit flatternden Armen.
    Am nächsten Nachmittag besuchten Pearl und ich noch einmal die Truppe vor ihrer Weiterreise in die nächste Stadt. Dabei machten wir eine unerwartete Entdeckung: Die Mädchen wurden gezwungen, ihre akrobatischen Übungen auf dem Steinboden zu trainieren. Pearl und ich waren froh, dass unsere Eltern uns nicht verkauft hatten.
    Schließlich sahen wir Liang, die am Ufer Kleider wusch.
    Pearl stellte uns vor und sagte, wie sehr wir sie bewunderten.
    Liang nickte dankbar, aber senkte den Blick. Tränen liefen über ihre Wangen.
    »Was ist passiert?«, fragte Pearl. »Wo ist Ihre Freundin, Yin-tai?«
    »Sie ist krank.«
    »Vielleicht ist sie nur erschöpft«, versuchte Pearl, sie zu trösten. »Sie muss sich nur einen Tag ausruhen, dann geht es ihr sicher wieder besser.«
    »Nein, es gibt keine Hoffnung.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Sie hat Tuberkulose und wird sterben«, sagte die Schauspielerin schluchzend und zeigte uns Blutflecken auf einem der nassen Kleider.
    Pearl und ich waren erschüttert.
    »Muss sie denn heute Abend nicht auftreten?«, fragten wir.
    »Die Aufführung wurde gerade abgesagt.« Die Schauspielerin brach in Tränen aus. »Der Arzt meint, sie würde die Nacht nicht überleben.«
    Wir wussten nicht, was wir darauf sagen sollten.
     
    Die schöne Schauspielerin starb. Weil die Frau mit dem Schildkrötengesicht kein Geld für eine Beerdigung hatte, warfen sie die Leiche in den Fluss. Sie war als sehr junges Mädchen an die Operntruppe verkauft worden, so dass weder ihre Eltern noch die Verwandten über ihren Tod informiert wurden. Als Pearl ihrer Mutter davon erzählte, schickte Carie Absalom und Papa zum Fluss, um die Leiche zu holen. Absalom hielt eine bescheidene Trauerfeier ab und beerdigte die Schauspielerin hinter der alten Kirche. Zuvor hatte NaiNai sie gewaschen und ihr das Kleid angezogen, das ich zur Opernaufführung getragen hatte. Ich fand Trost darin, dass ihr mein Kleid so gut passte.
    Liang kam, um sich zu verabschieden. Sie war tieftraurig. Einen Moment lang wanderten meine Gedanken zu jener Szene im Stück zurück, in der sie als Mann der sterbenden Geliebten ewige Liebe schwor.
    Pearl weinte und weinte. Wochen später ging sie zu Absalom und wollte von ihm wissen, warum Gott dem Mädchen nicht geholfen hatte.
    Er erwiderte, man »müsse sich Gottes Schutz verdienen«.
    In ihrer Not kam Pearl zu NaiNai und bat sie, mit ihr in den buddhistischen Tempel zu gehen, um ihr dort ein Kapitel aus der buddhistischen Schrift mit dem Titel »Himmlischer Tod und Kreislauf des Lebens«

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