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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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vorzulesen. Hinterher zündeten Pearl und ich Räucherstäbchen an und beteten für die Seele der Schauspielerin.
    »Ich lerne gerade, was lustig und was schrecklich ist«, sagte Pearl wie zu sich selbst. »Und mir gefällt die buddhistische Vorstellung, dass alles Wahre schön ist.«
     
    Im Jahr der Ratte forderte die Ruhr viele Menschenleben. Auch NaiNai war krank. Der Arzt verbot Absalom und Carie jedoch, sie mit westlicher Medizin zu behandeln, weil dann seine chinesischen Kräuter nicht mehr wirken würden.
    Papa gab seine ganzen Ersparnisse aus, doch NaiNai ging es immer schlechter. Ich spielte mit Pearl in den Hügeln, als eine Nachbarin kam und sagte, NaiNai liege im Sterben. Als ich an ihr Bett trat, war sie kaum noch bei Bewusstsein. »Carie …«, sagte sie immer wieder.
    Ich floh aus dem Haus und lief zu Carie. Wortlos nahm sie ihre Tasche mit Arzneien und kam mit mir.
    »Meine Mutter ist von bösen Geistern besessen«, warnte Papa, von Panik ergriffen. »Wenn Sie sie berühren, folgt Ihnen das Unglück nach Hause.«
    »Es ist eine Schande, dass mein Mann Sie konvertiert hat!« Carie war entsetzt. »Sie klingen keineswegs wie ein Christ.« Sie öffnete ihre Tasche. »Bleiben Sie bloß weg«, befahl sie Papa.
    Sie nahm eine Spritze heraus und injizierte sie NaiNai. »Das müsste reichen. Sagen Sie Bescheid, wenn ihr Zustand sich nicht verbessert. Dann komme ich mit dem Arzt aus der Botschaft her.«
    Um Mitternacht bat NaiNai um Wasser, bei Sonnenaufgang hatte sie Hunger.
    Als Papa aus Dankbarkeit vor Carie auf die Knie sank, meinte Absalom, es sei Gottes Wille gewesen, dass NaiNai lebte.
    »Mit meiner Frau hat das nichts zu tun«, beharrte er. »Es sind die gemeinsamen Gebete der Gemeindemitglieder, die Gott erhört hat.«
    Wenn Papa das Christsein bislang nur vorgegaukelt hatte, änderte sich das in diesem Moment. Auch NaiNai verabschiedete sich offiziell von der Buddhastatue in ihrem Zimmer und ersetzte sie durch eine Christusfigur – ein Geschenk von Absalom.
    Manche Dinge änderten sich jedoch nie. Die Engel in NaiNais christlichem Himmel sahen aus wie Pfirsichblüten, Schmetterlinge und Kolibris. Gott selbst lebte in einer chinesischen Landschaft, in der sich Wolken in Seen widerspiegelten und Bambus und Kiefern die Berge bedeckten. Am lustigsten fanden Pearl und ich aber, dass NaiNais Christengott auf dem Rücken eines Hirsches reiste und für größere Entfernungen einen Kranich benutzte.
     
    Ich war elf Jahre alt, als Pearl schon fast alle Einwohner von Chinkiang kannte. Der Popcornmann, der jede erste Woche im Monat in unsere Stadt kam, gefiel uns von allen am besten. Er sprach einen nördlichen Dialekt, hatte kohlschwarze Haut, und seine Haare waren starr vor Schmutz. Jahr für Jahr trug er dieselben, mit Flicken übersäten Kleider aus grobem Leinen. Seine breite Nase war stets kohleverschmiert. Er lächelte nie, doch war er die Freundlichkeit in Person und zog mit seiner kleinen Karre von Dorf zu Dorf.
    Auf der Karre des Popcornmanns war ein kanonenförmiger Eisentopf auf einem Feuerkasten aus Blechbüchsen befestigt. In dem Feuerkasten steckte das Aluminiumrohr eines hölzernen Blasebalgs, und außen an der Karre hingen eine Kiste Feuerholz und ein Baumwollsack. Wir waren immer ganz aufgeregt, wenn der Mann den Topf anheizte und die Flammen hochschossen. Dabei hielten wir genug Abstand, weil die Erwachsenen uns gewarnt hatten, dass der Topf explodieren könnte.
    Pearl und ich standen stundenlang beim Popcornmann. Wir sahen zu, wie er den Topf mit der linken Hand drehte und mit der rechten den Blasebalg bediente. Er brauchte keine Uhr, um zu wissen, wann die richtige Temperatur erreicht war und das Korn platzen würde. Wenn es so weit war, stülpte er den Baumwollsack oben über den Topf und hob mit einem Eisenrohr den Deckel an, woraufhin es knallte wie bei einer Explosion. Darauf hatten alle Kinder gewartet.
    »Pop!«, rief der Mann jedes Mal kurz vor dem Knall.
    Die kleinen Kinder hielten sich die Ohren zu oder schlossen die Augen, doch Pearl und ich liebten den Knall, dem ein wunderbarer Duft folgte. Im Nu war der Baumwollsack gefüllt. Für uns war das reine Zauberei – der Mais oder Reis einer Dose konnte auf ihr Vielfaches anwachsen.
     
    Als Carie endlich einwilligte, uns eine Büchse Maiskörner zu geben, machten Pearl und ich Freudensprünge. Es war schon dunkel, und der Popcornmann war weitergezogen, doch wir holten ihn ein und baten ihn, unser Korn zu poppen. Der Mann

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