Goldener Bambus
eine, die mir mit Carol hilft. Ich kann es selbst kaum fassen, dass ich wieder Zeit für mich habe. Ich nutze jede Gelegenheit zum Schreiben und habe gerade einen neuen Roman beendet!«
Niemand ahnte, was für eine Tragödie sich anbahnte. Ohne dass es Anzeichen dafür gab, sollte Pearl bald erfahren, dass Carol unter Phenylketonurie litt, einer angeborenen Stoffwechselstörung, die zu einer schweren geistigen Behinderung Carols führte.
Pearl kam jetzt nicht mehr regelmäßig nach Chinkiang und blieb meist nur kurz, so dass ihre Mutter nie genug Zeit mit ihrer Enkelin verbringen konnte. Carol hatte inzwischen ihren ersten Geburtstag gefeiert, und Pearl beobachtete zunehmend angespannt das Spielverhalten ihrer Tochter. Mir fiel auf, dass Carol zwar gesund aussah und freundlich war, aber nicht wie andere Kinder in ihrem Alter zu sprechen anfing.
Ohne Vorwarnung brach Pearl ihre Besuche ganz ab. Nach zwei Monaten ohne ein Lebenszeichen kam sie schließlich allein und begegnete den Fragen ihrer Mutter mit Ausflüchten. In Caries Gegenwart wirkte sie heiter, doch ich sah, dass es gespielt war.
Caries Bett stand jetzt neben dem Fenster, wo sie die Bäume und Berge besser sehen konnte. Meistens schwieg sie, während Pearl ihre Hand hielt, und sagte auch nichts, wenn ihre Tochter wieder ging.
Nach dem Abschied starrte Carie hinaus in die Dunkelheit. Um sie aufzumuntern, erzählte ich ihr einmal vom Chinkianger christlichen Mädchenchor. »Ich habe den Mädchen all die Lieder beigebracht, die Sie mich gelehrt haben«, berichtete ich. »Momentan proben wir für die Aufführung an Heiligabend.«
Carie freute sich über die Nachricht, doch tief im Inneren vermisste sie ihre Tochter und ihre Enkelin.
Monate vergingen, ohne dass Pearl zu Besuch kam. Dann erhielt ich einen Brief, der mir das Herz brach. Die Ärzte hatten ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt – Carol war geistig zurückgeblieben, und das würde sich nie ändern. In ihrem Brief flehte Pearl mich an, nichts davon Carie zu erzählen. »Sag meiner Mutter, ich komme sobald es geht und verspreche, das nächste Mal länger zu bleiben.«
Carie fühlte, dass ihr Leben sich dem Ende zuneigte. Da sie zuvor Guilin in der Provinz Guangxi besuchen wollte, rief sie mich an ihr Bett. »Würdest du mich begleiten, Weide?«, fragte sie.
Sofort begann ich, Vorkehrungen zu treffen. Ich schrieb Pearl, die mit Lossing in Amerika war, um Carol behandeln zu lassen, von der bevorstehenden Reise ihrer Mutter. Nach fünf Tagen trafen wir mit dem Zug in Guilin ein. Von dort aus fuhr Carie – auf einem Stuhl sitzend – mit dem Bambusfloß den Li-Fluss hinunter. Mit tränenverhangenen Augen glitt ihr Blick über die Landschaft, die wie eine Tuschezeichnung anmutete. Das glatte, klare Wasser spiegelte die grünen Berge und den wolkenlosen Himmel.
»Jetzt bin ich bereit zu sterben«, sagte Carie ruhig.
»Nein, das sind Sie nicht«, erwiderte ich. »Sie haben noch nicht gehört, dass Carol Sie Großmutter nennt.«
Sie schüttelte leicht den Kopf. »Das wird sie vielleicht niemals können.«
Da wurde mir klar, dass Carie die ganze Zeit von Carols Krankheit gewusst und geschwiegen hatte, um Pearl nicht zu belasten. Über die Jahre hatte sie zu viel Krankheit und Tod gesehen, um es nicht zu bemerken.
»Aber warum kämpfen Sie nicht?« Ich weinte, die Wange an ihren Handrücken gedrückt. »Sie haben immer gekämpft, für Ihre Kinder, für Ihr eigenes und das Leben aller anderen. Ich weiß noch, wie Sie mir den Kopf geschrubbt haben, um mich von den Läusen zu befreien.«
Carie schenkte mir ein schwaches Lächeln. »Ich bin zu müde.«
Ich begriff, dass Carie nach Guilin gereist war, um Pearl zu helfen. Denn wenn sie nicht zu Hause war, würde Pearl auch nicht zurück nach Chinkiang eilen.
»Sie sind zu hart zu sich selbst, Carie«, sagte ich.
»Nichts ist hart mit dir an meiner Seite.« Sie lächelte.
Ich fragte sie, ob ich noch irgendetwas für sie tun könnte.
Sie schwieg eine Weile, dann murmelte sie: »Steh Pearl bei, wenn ich nicht mehr da bin.«
13 . Kapitel
C
arie starb einen Tag vor Heiligabend. Pearl und ich waren bei ihr. Caries letzter Wunsch berührte mich zutiefst. Sie wollte, dass ihr Hab und Gut verkauft und der Erlös ihrer lebenslangen Dienerin und Freundin Wang Ah-ma zukommen sollte, damit diese nicht mehr zu arbeiten brauchte und in ihren Heimatort zurückkehren konnte. Am Weihnachtstag wurde Carie beerdigt. Absalom hielt einen einfachen
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