Goldener Bambus
annahm, dass sie Carie eskortiert hatten, zum Kommen aufgefordert und gebeten, »behutsam mit der beklagenswerten Seele umzugehen«. Als Dritter wurde der Himmlische Richter eingeladen, dem die Aufgabe zufiel, Caries Tugenden zu zählen und über ihre Zukunft zu entscheiden. Die Nachricht der Klageweiber an ihn lautete: »Bitte sei gütig und gerecht.« Diesem Gott wurden Essen und Wein dargeboten, um ihn in eine wohlwollende Stimmung zu versetzen.
Pearl war den Einwohnern Chinkiangs dankbar, dass sie ihre Mutter mit diesen alten Traditionen ehrten. Sie nahm an der Trauerzeremonie teil, indem sie an Caries Altar Weihrauch anzündete und betete, dass die Seele ihrer Mutter Trost finde.
Ich fragte Pearl, wo ihr Mann war.
»Lossing ist Amerikaner …«, sagte sie. »Und er hat viel zu tun.«
Ich spürte ihre Verärgerung.
»Lossing sollte hier sein, wenigstens um dir beizustehen.«
»Ich habe ihm gesagt, dass er nicht kommen muss, wenn er zu tun hat«, erklärte Pearl, schien aber trotzdem verletzt.
»Pearl.« Ich zwang sie, mich anzusehen. »Was ist los?«
Ihre Antwort kam zögernd. »Lossing beschwert sich, dass ich zu anspruchsvoll bin, und war sogar dagegen, dass ich hierher komme. Ich sollte in Nanjing bleiben und mich um Carol kümmern.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Carols Zustand wird nicht besser …« Pearl brach in Tränen aus. »Ich weigere mich zu glauben, was ich sehe, aber ich muss es. Meine Tochter redet nicht und zeigt keine Reaktion. Ich habe versucht, ihr etwas beizubringen, aber ich dringe nicht zu ihr durch. Lossing glaubt, es ist meine Schuld, und ich glaube das auch. Ich habe Carol von Anfang an falsch behandelt. Ich weiß nicht, was passiert ist … Lossing ist am Boden zerstört. Er kann es nicht fassen, dass sie sein Kind ist. Letzte Woche ist er wieder auf Exkursion in den Norden gegangen. Vielleicht ist es besser so – dann streiten wir uns wenigstens nicht die ganze Zeit. Er ist drei Monate lang weg, vielleicht länger. Ich habe Angst, dass er nicht zurückkommt …«
»Das wird er«, tröstete ich sie. »Er ist Carols Vater, gib ihm Zeit.«
»Du kennst die Wahrheit über unsere Ehe nicht, Weide. Es funktioniert nicht mit uns. Carols Probleme sind nur das Salz auf der Wunde. Ich dachte, ich würde damit fertig. Es macht mir nichts aus, dass Lossing seine Wut an mir auslässt, aber wenn er Carol schlecht behandelt …«
Weinend legte sie den Kopf an meine Schulter.
»Ich kann mir nicht vorstellen, weiter mit ihm unter einem Dach zu leben«, fuhr sie fort. »Carol versteht nicht, was los ist, sie hat die Grausamkeit ihres Vaters nicht verdient.«
»Aber du brauchst Lossing jetzt«, sagte ich.
Sie stimmte mir zu. »Wir brauchen Geld, um die Ärzte in Amerika zu bezahlen.«
Nach Caries Tod reiste Absalom immer öfter tief ins Landesinnere, manchmal für über ein Jahr. Es gelang ihm, weitere christliche Kirchengemeinden zu gründen. Zimmermann Chan begleitete ihn mit Frau und Kindern.
Papa war weiterhin für die christliche Gemeinde in Chinkiang zuständig. Zu seinen neuesten Erfolgen zählte, den reichsten Mann der Stadt zum Konvertieren bewegt zu haben, den Besitzer der berühmten Essigfabrik. Die vielen Spenden, die Papa von ihm bekam, schickte er Absalom, der damit christliche Schulen im Landesinneren unterstützte.
Neben meiner Arbeit als Herausgeberin und Redakteurin der Zeitung war ich auch für die Christliche Mittelschule für Mädchen in Chinkiang zuständig. Dabei folgte ich Caries ursprünglichem Lehrplan, nahm aber auch chinesische Geschichte, Naturwissenschaft und Mathematik darin auf.
Die große Beliebtheit von
Unabhängiges Chinkiang
wurde mir erst bewusst, als ich einen Brief des
Nanjinger Tageblatts
erhielt, in dem mir eine Stelle als Redakteurin angeboten wurde.
Ohne zu zögern, nahm ich das Angebot an. Ich hatte die Zeitung, die genauso angesehen war wie das
Shanghaier Tageblatt
und eine Leserschaft in ganz Südchina hatte, schon immer bewundert. Die Arbeit würde meinen Horizont erweitern, und ich konnte wieder mit Pearl zusammen sein.
Als wären wir zurück in unserer Kindheit, hieß Pearl mich in Nanjing willkommen. Gemeinsam stiegen wir auf die berühmten Purpurberge. Zu unseren Füßen lag die Stadt, und überall schmiegten sich Tempel, Schreine und das Grabmal des Ming-Kaisers aus dem vierzehnten Jahrhundert in die Berge. Die Stadtmauer von Nanjing war über fünfunddreißig Kilometer lang, die neun kunstvoll verzierten Tore
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