Goldener Bambus
Trost darin fand und ihre Phantasie der einzige Ort sei, an dem sie frei und sie selbst sein konnte. Ich wusste, dass sie nach Geschichten hungerte und von Charles Dickens inspiriert war. Bei unserer ersten Begegnung hatte sie eine ledergebundene Ausgabe von
Eine Geschichte aus zwei Städten
in der Hand gehabt. Sie liebte
Oliver Twist, Bleak House
und
Die Pickwickier
und hatte die Bücher so oft gelesen, dass sie sie praktisch rezitieren konnte. Auch geschrieben hatte sie immer gern und auf dem Randolph-Macon Women’s College in Amerika sogar Preise für ihre Geschichten gewonnen. Doch es war ihr klar, dass sie es heimlich tun musste. Absalom hatte ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass Gott zu dienen der einzige Zweck des Lebens war, und Lossing machte ihr ein schlechtes Gewissen, wenn sie einem eigennützigen Interesse nachging. Er wollte, dass sie weiterhin als seine Dolmetscherin fungierte, und war wütend, als sie sich weigerte. »Ist es mein Schicksal, mich einem Mann unterzuordnen?«, witzelte Pearl.
Sie benutzte ihre Schwangerschaft als Vorwand und schrieb, sobald Lossing das Haus verließ. Wenn er jetzt monatelang auf Reisen war, beschwerte sie sich nicht mehr über seine lange Abwesenheit. Sie lernte, allein zu sein und ihre Unzufriedenheit im Inneren wegzuschließen.
Pearl gestand mir ihre Angst, wie Carie zu werden – gefangen im eigenen Haus. Sie freundete sich mit den benachbarten Bauern an, deren Geschichten ihr Stoff fürs Schreiben gaben.
»Es ist eine Schande, dass Chinas Intellektuelle lieber ihren Hirngespinsten huldigen als der Realität«, schrieb Pearl mir. »Da ist es natürlich viel einfacher, die Augen vor Krankheiten und Tod zu verschließen.«
Ich schrieb ihr zurück, dass meine Zeitung,
Unabhängiges Chinkiang
, endlich das Licht der Welt erblickt hatte. Pearl versprach, eine monatliche Kolumne beizusteuern. Unter dem Pseudonym Wei Liang, einem chinesischen Männernamen, schrieb sie über Politik, Ökonomie, Geschichte, Literatur und Frauenfragen. Ihre Artikel kamen gut an, und obwohl die Auflage deprimierend niedrig war, erfüllte es uns mit Stolz, eine eigene Stimme zu haben.
Anfang 1920 erlosch langsam das Licht in Caries Augen, und sie verlor immer wieder das Bewusstsein. Pearl eilte aus Nanhsuchou herbei mit dem unguten Gefühl, dass ihre Mutter ihr Enkelkind nicht mehr kennenlernen würde.
12 . Kapitel
N
ach einem Jahr sah es so aus, als müsse
Unabhängiges Chinkiang
eingestellt werden. Ich konnte mich noch so sehr anstrengen, es wurden nicht genug Ausgaben verkauft, um über die Runden zu kommen.
Papa bot sich als Geldgeber an, unter zwei Bedingungen: Der Name musste in
Christliches Chinkiang
geändert werden und der Inhalt das Christentum befördern.
»Wenn ich Absaloms Geld ausgebe, muss ich auch Gottes Lieder singen«, erklärte er. »Keine Berichte, die Jesus herabsetzen.«
Ich lehnte Papas Angebot ab, zumal meine Zeitung gerade über die skandalöse Tatsache berichtete, dass chinesische Konvertiten weiterhin die schlimmsten chinesischen Sitten pflegten. So kauften christliche Männer immer noch unbeirrt Konkubinen, wie mir die Ehefrauen in Interviews erzählten.
Papa war verärgert, weil auch er Affären mit verschiedenen Damen im Ort hatte, was er vor Absalom geheim hielt. »Warum musst du schlafende Hunde wecken?«, fragte er mich.
»Meine Leser haben ein Recht auf die Wahrheit«, erwiderte ich.
»Dann gibt’s kein Geld von der Kirche.«
»Auch gut.«
Pearl, die mit der Pflege ihrer Mutter wahre Wunder bewirkte, war zuversichtlich, dass die Zeitung überleben würde. Wir diskutierten Strategien und nahmen Veränderungen vor, um für junge Intellektuelle attraktiver zu sein.
Pearl legte sich ein weiteres Pseudonym zu. Unter dem Namen Er-ping, was »Eine alternative Sichtweise« bedeutete, schrieb sie über Chinas Stellung in der Welt. Sie führte in die Geschichte des Westens ein, schrieb über die industrielle Revolution, unterschiedliche Regierungsformen, das Konzept der politischen Demokratie und die wichtigsten Richtungen in Philosophie und Kunst.
Pearls Analysen und Essays stießen auf großes Interesse. Ihr sprachgewandtes Chinesisch beeindruckte die Leser so sehr, dass niemand auf die Idee kam, hinter dem Namen Er-ping eine Weiße, dazu noch eine Frau zu vermuten. Die Zahl der Abonnenten stieg und damit der Anzeigenverkauf.
Seit Pearl die Entwürfe meiner Artikel redigierte, wurde ich auch besser im Schreiben. Ich lebte praktisch in der
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