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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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können?«

14 . Kapitel
    M
eine Entscheidung, die Stelle beim
Nanjinger Tageblatt
anzunehmen, war die beste, die ich je in meinem Berufsleben getroffen hatte. Ich war umgeben von intelligenten, aufgeschlossenen Menschen. Wir konkurrierten mit dem
Pekinger Tageblatt
und dem
Shanghaier Tageblatt
. Oft nahm ich Arbeit, die ich im Büro nicht geschafft hatte, mit nach Hause. Nach einem Jahr zog ich in ein Haus außerhalb des alten Stadttors, dafür nahe der Wälder und Berge. Die frische Luft, die Aussicht und die Ruhe taten mir gut. Ich hatte sogar einen richtigen Garten, was ich nach dem Jäten des Unkrauts feststellte, und pflanzte Rosen, Flieder und Päonien. Ich freute mich darauf, im Frühjahr beim Gedenkfest frische Blumen auf Caries Grab stellen zu können.
    Pearl unterrichtete weiterhin an der Universität in Nanjing. Wir feierten unsere Geburtstage zusammen. Inzwischen waren wir Mitte dreißig, machten Scherze über unser Leben und zogen uns gegenseitig auf. Nach dem Gesetz war ich noch immer mit meinem Mann verheiratet, da es in China keine Scheidungen gab. Ich wusste nicht, wie viele neue Konkubinen er geheiratet und wie viele Kinder er hatte. Ich bat meinen Vater – als Oberhaupt der Kirche –, meine Trennung von diesem Mann bekanntzugeben.
    Papa fand das unnötig. »Aus den Augen, aus dem Sinn«, sagte er. »Dein Mann hat allen erzählt, du wärst tot. Ich bin es leid, den Leuten zu erklären, dass du noch lebst.«
    Ich fragte Papa, ob er nach Nanjing kommen wolle, damit ich mich um ihn kümmern konnte. Er lehnte ab mit den Worten, er sei Gottes Fußsoldat, die Kirche sein Haus und die Mitglieder seine Familie.
    Pearl hingegen schaffte es, den Leiter der Universität von Nanjing zu überreden, Absalom eine unbezahlte Stelle einzurichten, um westliche Religion zu unterrichten. Pearl redete auf ihren dreiundsiebzig Jahre alten Vater ein, es langsamer angehen zu lassen und zu ihr nach Nanjing zu ziehen. Am Ende stimmte er zu.
    Zimmermann Chan und Lilac folgten Absalom nach Nanjing. Sie fanden ein bescheidenes Heim anderthalb Kilometer von Pearls Haus entfernt. Zimmermann Chan glaubte, dass Absalom ihn brauchte, da er »niemals aufhören wird, Gottes Reich zu vergrößern«.
    Lilac war überzeugt, dass sie ihr Glück der Hingabe ihres Mannes an Absaloms Sache zu verdanken habe. Sie gehörte zu den Hunderten von Absaloms getreuen Anhängern.
    »Absalom ist offensichtlich so zufrieden, dass er nicht länger ins Landesinnere gehen und sein Leben aufs Spiel setzen muss«, sagte ich Pearl.
    »Erinnerst du dich noch, wie er anfangs auf den Straßen von Chinkiang gepredigt hat?« Pearl lächelte.
    »O ja. Wir haben ihn alle für verrückt gehalten.«
     
    Pearl wollte, dass Carol das eine Wort sagte, das sie ihr die ganze Woche lang versucht hatte beizubringen. Aber Carol konnte es nicht, was sie beide in den Wahnsinn trieb. Die chinesische Dienerschaft fütterte Carol unablässig, denn sie glaubten, je dicker ein Kind sei, desto besser seine Gesundheit. Und so war Carol zwar geistig zurückgeblieben, aber körperlich stark. Eines Tages warf sie Pearl einen steinernen Briefbeschwerer an die Stirn.
    Blut rann wie ein Regenwurm über Pearls Gesicht. Carol, der nicht klar war, was sie getan hatte, spielte unbeirrt weiter, während Pearl sich auf dem Boden sitzend schweigend das Blut vom Gesicht wischte.
    Inzwischen hatte sich Lossing mit der Realität abgefunden. Er ging Pearl und Carol aus dem Weg und verbrachte die meiste Zeit in seinem Büro, sogar sonntags.
    Pearls Weigerung, Carols Behinderung als unabänderlich hinzunehmen, verschlimmerte die Anspannung in ihrer bereits angeschlagenen Ehe. Sie nannte Lossing einen Feigling, als er sie zu überzeugen versuchte, dass es keinen Zweck habe, gegen Gottes Willen anzukämpfen.
    Pearl äußerte ihre Wut oft auf Chinesisch, was Lossing zwar verstand, aber nicht schnell genug parieren konnte. Sie sagte Dinge wie: »Maden brüten nicht nur in Dunggruben, sondern auch in teuren Fleischgläsern.«
    Wenn sie schrie: »Nur die Zehen spüren, wenn der Schuh drückt«, war nicht klar, ob Lossing die Bedeutung ihrer Worte verstand.
    Die Kämpfe mit ihrem Mann und die Sorge um ihre Tochter zehrten an Pearl. Sie achtete nicht mehr auf ihr Äußeres, trug jeden Tag dieselbe knittrige braune Jacke und den schwarzen Baumwollrock und glich immer mehr den örtlichen Chinesinnen. Stets in Eile, hatte sie die Haare zu einem Knoten gebunden und immer einen Stapel Bücher unter dem

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