Goldener Bambus
Lossing jetzt?«
»Ich weiß es nicht.«
»Weiß er, dass du es weißt? Wie lange geht das schon?«
»Ich hab mich um nichts anderes gekümmert als um Carol.«
»Wer ist diese Frau?«
»Ich glaube, ich weiß, wer sie ist. Sie heißt Lotos und studiert im ersten Semester Agrarwissenschaften. Ich bin ihr schon ein paarmal in Lossings Büro begegnet.«
»Ist sie hübsch?«
»Ich erinnere mich nicht … ob sie besonders hübsch war. Er hat sie als Übersetzerin für seine Exkursionen eingestellt und auf Reisen mitgenommen. Wie dumm von mir, ihm zu vertrauen.« Sie nahm das Handtuch, das ich ihr hinhielt, und wischte sich das Gesicht ab. »Wenn ich ehrlich bin, habe ich es kommen sehen.«
Ich machte Tee, und wir setzten uns. »Was willst du tun?«, fragte ich leise.
»Wenn Carol nicht wäre, würde ich ihn sofort verlassen«, antwortete sie mit tränennassen Augen.
»Das Problem ist, dass du nicht genug verdienst.«
»Richtig.«
Ich dachte an Pearls Mutter, die sich ihr Leben lang wie in einer Falle gefühlt hatte.
»Würdest du Carol zuliebe weiter bei ihm bleiben?«
Pearl fuhr sich mit den Händen durchs nasse Haar, biss sich auf die Lippe und schüttelte langsam, aber entschlossen den Kopf.
»Die Realität …«
»Letzten Monat hab ich zwei Essays verkauft, an den
South East Asia Chronicle
und das
American Adventure Magazine
. Sie haben zwar nicht viel bezahlt, aber es hat mir Hoffnung gemacht.«
»Pearl, heutzutage ist es für alle schwer, über die Runden zu kommen. Aber für eine Frau ist es doppelt so hart, das weißt du.«
»Ich mache trotzdem weiter«, sagte sie entschlossen. »Mein Gefühl sagt mir, dass Schreiben meine beste Chance ist. Ich muss es versuchen.«
»Mit deinen chinesischen Geschichten?«
»Genau. Ich glaube an diese Geschichten. Kein anderer westlicher Autor kann über das wirkliche Leben im Orient so schreiben wie ich. Himmelherrgott, ich lebe es. Die Welt der Chinesen schreit danach, erforscht zu werden. Genau so war Amerika auch einmal – fruchtbar und voller Möglichkeiten.«
Pearl und ich machten eine neue Entdeckung: den Dichter Hsu Chih-mo. Im Sommer 1925 nannte man Hsu Chih-mo den »Renaissance-Mann« oder den »Chinesischen Shelley«. Er setzte sich für das Recht der Arbeiterklasse ein, lesen und schreiben zu lernen, und wurde so zum Anführer von Chinas Neuer Kulturbewegung. Pearl und ich waren große Anhänger von Hsu Chih-mo.
»Ein Busch am Fuße des Berges kann niemals die Aussicht einer Kiefer genießen …«, schrieb ich Pearl, eine Zeile aus Hsu Chih-mos Essay mit dem Titel »Über das Universum« zitierend. »Um die dahinziehenden Wolken zu berühren, muss die Kiefer halsbrecherisch an der Klippe hängen.«
Im Gegenzug schickte Pearl mir einen Auszug aus seinem Essay »Die Moral des Selbstmords«, dem sie eine Notiz beifügte. »Es würde mich wundern, wenn Du Dich nicht in den Verstand dieses Dichters verliebst.«
Es ist unrecht, dass diese Selbstmorde in unserer Gesellschaft so hoch angesehen sind und moralische Standards setzen: Ein Dorfmädchen, das ins Wasser geht, um die misshandelnde Schwiegermutter nicht ertragen zu müssen; ein Geschäftsmann, der sich erhängt, weil er seine Schulden nicht bezahlen kann; ein Inder, der sich den Krokodilen opfert, und ein Minister, der Gift trinkt, um dem Kaiser seine Loyalität zu bezeugen.
Wir entehren die Integrität des Einzelnen, indem wir diese Art des Sterbens ehren. Wir geben dem Tod einen glorreichen Klang. Für mich sind die Menschen, die Selbstmord begehen, keine Helden, sondern Opfer. Ich schenke ihnen mein Mitleid und meine Anteilnahme, aber nicht meinen Respekt und meine Bewunderung. Sie sind keine Märtyrer, sie sind Dummköpfe. Es gibt andere Formen von Selbstmord, die ich für wahrhaft glorreich und ehrenwert halte – zum Beispiel bei Shakespeares Romeo und Julia. Ihr Tod berührt uns, weil wir uns mit ihrer Humanität identifizieren.
Es wehte ein rauer Wind. Riesige Kiefern ragten feierlich in den grauen Himmel. Pearl und ich saßen nebeneinander, die Stadt zu unseren Füßen, und sprachen über Hsu Chih-mo. Wir wussten schon eine Menge über ihn. Nach einem Abschluss in Rechtswissenschaften an der Universität in Peking war er nach England gegangen, um Ökonomie zu studieren, wählte aber stattdessen Literatur. Danach besuchte er die Columbia University in Amerika, wo er im Hauptfach Politikwissenschaften studierte. Am meisten interessierte uns seine Abschlussarbeit mit dem Titel:
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