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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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Arm.
    Schließlich hörte sie auf, von Carol Dinge zu verlangen, die sie überforderten. Oft saß sie einfach nur da und beobachtete ihre Tochter, einen unendlich traurigen Ausdruck im Gesicht.
     
    Als Lehrerin war Pearl sehr beliebt. Dass sie Chinesisch wie ihre Muttersprache beherrschte, machte sie zur populärsten Dozentin an der ganzen Universität. Sie wurde zum offiziellen Mitglied des Lehrkörpers befördert und unterrichtete neben Englisch auch amerikanische und englische Literatur. Pearl hatte ein ernsthaftes Interesse an ihren Studenten und mochte es, wenn sie ihr Leben mit dem der Figuren in Charles Dickens’ Romanen verglichen. Sie unterrichtete auch ältere Studenten. Bei den Konversationsübungen erfuhr sie eine Menge über deren Familien und das Leben außerhalb der Schule.
    Einmal erzählte Pearl mir eine Geschichte, die sie von einem ihrer Studenten gehört hatte. »Das Ganze ist erst drei Monate her«, begann sie. »Bei einem Massaker in der Stadt Shaoxing wurde eine Gruppe junger Kommunisten von der nationalistischen Regierung geköpft. Ihre Körper wurden zerstückelt, gemahlen und in Brot verbacken, das dann in der Bäckerei verkauft wurde. Kannst du dir das vorstellen, Weide? Was für eine Methode, die Leute zum Gehorsam zu bringen!«
     
    Pearl fand heraus, dass ihre Diener ihr etwas verheimlicht hatten. »Letzte Nacht«, berichtete sie mir, »habe ich hinter dem Haus ein Geräusch gehört, bin hingegangen und entdeckte eine Frau, die dort mit ihrem Neugeborenen lebt. Sie ist so alt wie ich, vielleicht etwas jünger, und heißt Soo-ching. Seit sechs Monaten lebt sie schon da und hat vor ein paar Tagen einen Sohn geboren.«
    »Hat sie gebettelt, bleiben zu dürfen?«, fragte ich.
    »Natürlich.«
    »Was hast du gesagt?«
    »Was sollte ich denn sagen? Ich kann sie nicht fortjagen. Aber am seltsamsten war, dass die Bettlerin ihren Sohn Konfuzius genannt hat.«
    Ich fand das gar nicht seltsam. Wäre ich ein Junge geworden, hätte ich vielleicht auch so geheißen, denn damals, als Papa ein Bettler war, wollte er mich Konfuzius, Menzius oder wie die alten chinesischen Philosophen Lao-Tse oder Chuang-tzu nennen.
    »Würdest du solche Geschichten veröffentlichen, wenn ich sie schreibe?«, fragte Pearl. »Ich meine die Geschichten von richtigen Menschen.«
    »Ich persönlich schon, aber dass man bei der Zeitung da mitmacht, glaube ich kaum«, erwiderte ich.
    »Warum nicht?«, fragte Pearl. »Es sind bewegende, menschliche Geschichten, die die Leser bestimmt interessieren. Vielleicht würden sie sogar Gutes bewirken.«
    »Das schon, aber in der Zeitung wird traditionell nur das veröffentlicht, was die Menschen inspiriert, nicht, was sie deprimiert. Das hier ist nicht
Unabhängiges Chinkiang
, sondern das
Nanjinger Tageblatt
. Wir werden von der Regierung finanziert, das darfst du nicht vergessen.«
    »Aber was für einen Zweck hat eine Zeitung, die nicht die Wahrheit berichten darf?«, fragte Pearl. »Die Menschen bekommen ein falsches Bild davon, was in China wirklich passiert.«
    »Wenn du die Wahrheit willst, lies die Zeitungen der Kommunisten. Oder die Bücher, die ich von Lu Hsun, Lao She und Cao Yu besitze.«
    Pearl konnte es kaum abwarten, diese Bücher bei mir zu Hause abzuholen. Bald entdeckte sie noch weitere Autoren, was ihr half, ihre Eheprobleme in den Hintergrund zu drängen. Ihr Enthusiasmus kehrte zurück, und sie war wieder die Pearl von früher.
    Ich besuchte zwar weiterhin regelmäßig die Kirche, doch um mich herum gingen große Veränderungen vor sich, und durch meine Arbeit war ich mitten drin.
     
    Wir diskutierten die Arbeiten von Lu Hsun. Pearls Lieblingsbücher waren
Die wahre Geschichte von Ah Q
und
Die Geschichte von Mrs Xiang-Lin
. Obwohl die Gesellschaftskritik des Autors scharf und originell war, mochten wir die Geschichten nicht besonders. Pearl fand Lu Hsun problematisch, weil er seine Figuren so darstellte, als schaute er von hoch oben auf sie herab.
    »Er stellt die Bauern alle als engstirnig, stur und dumm dar«, bemerkte Pearl.
    »Aber allein, dass er Bauern zum Gegenstand seiner Geschichten machte, war schon revolutionär«, erwiderte ich.
    Pearl und ich liebten Lao She und Cao Yu. Zu ihren besten Geschichten zählten
Vier Generationen unter einem Dach, Die Blütenträume des Lao Li
und
Die Hochzeit des Puppenspielers
, wobei uns
Die Blütenträume des Lao Li
wegen der sensiblen Darstellung ganz besonders gefiel. In der Geschichte geht es um eine alleinstehende

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