Goldener Bambus
Mutter, die keinen anderen Ausweg fand, als sich zu prostituieren. Obwohl ihre Tochter versucht, nicht in die Fußstapfen der Mutter zu treten, bleibt ihr am Ende doch nichts anderes übrig.
Pearl mochte zwar die Geschichte, aber ihr missfiel deren Hoffnungslosigkeit. Selbst bei der Beschreibung tragischer Schicksale bevorzugte sie am Ende einen Hoffnungsschimmer. »Die Figur muss an sich selbst glauben, und sie muss Durchhaltevermögen besitzen.«
»Seit Tausenden von Jahren stehen wunderschöne, herzzerreißende Tragödien im Mittelpunkt chinesischer Erzähltradition«, erinnerte ich sie. »Schriftsteller und auch die Leser lieben das, was du Hoffnungslosigkeit nennst.«
»Das trifft nicht immer zu«, widersprach Pearl. »Der Roman
Die Räuber vom Liang-Schan-Moor
ist ein gutes Beispiel dafür. Die armen Bauern sind gezwungen, Räuber zu werden. Trotzdem ist das Buch voller Kraft und ohne jede Bitterkeit. Das ist für mich die chinesische Wesenheit!«
»Chinesische Kritiker sehen das anders«, argumentierte ich. »Sie finden
Die Räuber vom Liang-Schan-Moor
nicht differenziert genug. Für sie ist das Volkskunst und keine Literatur.«
»Genau aus dem Grund muss sich etwas ändern«, erklärte Pearl. »Das alltägliche Leben besitzt eine eigene Kraft, die beachtet werden muss. Denk an Soo-ching, die Frau, die ihren Sohn in meinem Garten zur Welt gebracht hat. Ich wette, sie hat die Nabelschnur selbst durchgebissen, wie Er-niang in
Die Räuber vom Liang-Schan-Moor
! Ohne jedes Selbstmitleid hat sie einfach weitergemacht, diese arme, verlauste Bettlerin! Für mich ist sie eine würdige Romanfigur, sogar eine Heldin!«
Mir fiel die erste Diskussion mit Pearl über den chinesischen Klassiker
Der Traum der roten Kammer
ein. Ich war sechzehn und hatte gerade lesen gelernt. Pearl mochte das Buch nicht, und schon gar nicht dessen Held Pao Yu.
»Hast du deine Meinung über
Der Traum der roten Kammer
geändert?«, fragte ich sie.
»Nein. Pao Yu ist nichts weiter als ein Playboy«, erwiderte Pearl.
»Für Chinesen ist Pao Yu ein Rebell und intellektueller Fürst«, sagte ich lächelnd. »Allgemein heißt es, dass Pao Yu mehr Respekt verdient als der Kaiser.«
»Was meinst du mit allgemein? Die Menschen mit dieser Auffassung bilden eine winzige Minderheit.«
»Aber diese Minderheit dominiert die literarische Welt.«
»Willst du damit sagen, dass die Mehrheit, nämlich die Bauern, in China nicht zählen?«, fragte Pearl verärgert.
Ich musste ihr recht geben und eingestehen, dass es nicht richtig war.
Pearl gab zu, dass
Der Traum der roten Kammer
ein Klassiker war. »Aber eine kranke Schönheit, wenn du so willst. Es geht darin um Wirklichkeitsflucht und Genusssucht. Womit ich nicht abstreiten will, dass der Roman auch Anerkennung verdient, weil er den damaligen Feudalismus kritisiert.«
»Ich bin froh, dass du das siehst. Es ist wichtig.«
»Trotzdem«, fuhr Pearl fort, »erinnert mich das Buch im Wesentlichen an Goethes
Die Leiden des jungen Werther
. Der Unterschied ist nur, dass Werther sich in eine Frau verliebte, Lotte, und sein chinesisches Gegenstück in zwölf Jungfrauen.«
»Die gebildeten Männer in China verbringen noch immer ihr Leben damit, Pao Yu nachzueifern.«
»Kneipen und Bordelle sind inzwischen die einzige Quelle der Inspiration. Was für eine Schande!«, bemerkte Pearl. »Für mich ist es ein Verbrechen, dass die Mehrheit des chinesischen Volks nicht in der Literatur vorkommt.«
15 . Kapitel
T
agelanger Nieselregen kündigte den Frühling an. Kamelien blühten, Blätter glänzten in sattem Grün. Blumen sanken unter der Last der Feuchtigkeit zu Boden. Ich arbeitete noch spät am Abend, als es an meine Tür klopfte.
Es war Pearl. Ohne Regenschirm stand sie mit klatschnassen Haaren da, offensichtlich am Boden zerstört.
»Was ist passiert?« Ich bat sie herein und schloss die Tür.
»Lossing …« Unfähig weiterzureden, drückte sie mir ein durchnässtes Stück Papier in die Hand.
Es war ein Brief, die handgeschriebene Kopie eines erotischen chinesischen Gedichts aus uralten Zeiten.
»Es ist nicht seine Handschrift«, bemerkte Pearl.
»Du glaubst, es ist von einer Studentin? Wo hast du es gefunden?«
»In seiner Schublade. Ich wollte seiner Tante schreiben, die ein paar Fragen wegen Carol hatte, und habe in seinem Büro eine Adresse gesucht.«
Ich war bestürzt. »Glaubst du, Lossing hat eine Affäre?«
»Was soll ich denn sonst denken?« Tränen füllten ihre Augen.
»Wo ist
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