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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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hatte verfügt, dass seine Asche über den Purpurbergen und dem Jangtse verstreut werden sollte.«
    Hatte Hsu Chih-mo die Möglichkeit seines Absturzes vorausgesehen? Bei dem Gedanken schauderte es mich. Der Dichter hatte eine lebhafte Phantasie, und es war durchaus vorstellbar, dass er sich auch einen dramatischen Tod ausgemalt hatte.
    Hsu Chih-mos letzter Streit mit Pearl fiel mir ein. Er war zu mir gekommen, nachdem er tagelang getrunken und nicht geschlafen hatte – zwei Tage vor seinem Flug in den Tod.
    »Kannst du ihr das hier geben?«, hatte er gefragt, ein Päckchen in der Hand.
    »Sie hat dir gesagt, dass du damit aufhören musst«, erwiderte ich.
    »Es ist das letzte Mal, dass ich dich um etwas bitte.«
    »Was ist es?«
    »Mein neues Buch, eine Gedichtsammlung.«
    Ich schenkte ihm einen Sie-wird-es-nicht-lesen-Blick.
    »Das ist mir egal. Sie war meine Inspiration dazu.«
     
    Trauernde füllten die Straßen von Nanjing. Weiße Magnolien und Jasmin waren ausverkauft. Dick und ich hatten den Zug von Shanghai nach Nanjing genommen und waren am Nachmittag angekommen. Vor unserer Abreise hatte Dick Pearl eine Nachricht geschickt, aber keine Antwort erhalten.
    Das Krematorium von Nanjing war voll mit weißen Blumen. Am Eingang hing an der Wand ein Foto Hsu Chih-mos. Auf einem Banner, das sich über die Längsseite der Halle erstreckte, stand: DICHTER DES VOLKES RUHE IN FRIEDEN . Hinter der Blumendekoration stand der geschlossene Sarg. Dick hatte die Leiche seines Freundes gesehen und gesagt, Hsu Chih-mo hätte gewollt, dass der Deckel geschlossen blieb.
     
    Niemand in Pearls Haus wusste, wo sie war. Das Dienstmädchen sagte, ihre Herrin wäre zur Universität gegangen. Irgendwann fiel mir das Bauernhaus des Piloten ein.
    Pearl hatte mir den Ort nur vage beschrieben, doch ich wollte sie trotzdem suchen. Sobald ich die Stadt verlassen hatte, verirrte ich mich, und erst ein Bauernkind wies mir den richtigen Weg. Das Kind hatte öfter beobachtet, wie in der Nähe des Hauses ein Flugzeug auf dem stillgelegten Militärflughafen aus dem Ersten Weltkrieg gestartet und gelandet war. Der Flughafen lag eingebettet zwischen Hügeln, und stellenweise wuchs hüfthohes Unkraut auf der brüchigen Piste.
    Das Bauernhaus war mit wildem Efeu überwachsen. Als ich mich der Tür näherte, verstummte der Lärm von Fröschen und Grillen. Grashüpfer hüpften um meine Füße, und einer sprang mir beinahe in den Mund. Riesige Schnaken surrten um meinen Kopf.
    Die Scharniere an der Tür machten einen bedenklichen Eindruck. Die Tür selbst hing schief in den Angeln und stand offen. Beim Betreten des Hauses roch ich Weihrauch.
    Sie trug ein ozeanblaues chinesisches Kleid. Es war mit weißen Chrysanthemen bestickt, dem Symbol für Trauer. Sie kniete am Boden und zündete Weihrauch an, zelebrierte das traditionelle chinesische Ritual, um die Seele Hsu Chih-mos zu begleiten. Sie hatte einen Altar mit Wasser und Blumen errichtet.
    »Pearl«, rief ich.
    Sie erhob sich, kam zu mir und brach in meinen Armen zusammen.
    Leise sagte ich, dass ich gekommen war, um ihr Hsu Chih-mos Päckchen zu überbringen.
    Sie nickte.
    Ich gab es ihr. »Ich bin vor dem Haus.«
    Als sie herauskam, sah sie aus wie eine Orientalin, die Augen vom Weinen fast zugeschwollen.
    Sie bat mich, einen Blick auf die erste Seite von Hsu Chih-mos Buch zu werfen. Es trug den Titel
Einsame Nächte
.
    Über dem Schirm der Herbstmond
    starrt kühl vom Himmel
    Mit seidenem Fächer sitze ich und schlage
    nach vorbeifliegenden Glühwürmchen
    Die Nacht wird kälter Stunde um Stunde
    das Herz fröstelt
    beim Anblick der spinnenden Jungfer
    von dem Hirten aus der Ferne
    Allein die Wildnis bleibt
    alle Gartenpracht verschwunden
    Der Fluss fließt unbeachtet vorüber
    Unkraut wächst unbeachtet weiter
    Dämmerung kommt, der Ostwind bläst und Vögel
    zwitschern ein trauriges Lied
    Blütenblätter, wie Nymphen von Balkonen,
    purzeln auf die Erde
    Ich kannte Pearls Einsamkeit. Seit unserer Kindheit war sie auf der Suche nach »ihresgleichen« gewesen. Was nicht bedeutete, jemand aus dem Abendland, sondern eine weitere Seele, die die Welt des Ostens wie die des Westens verstand.
    In Hsu Chih-mo hatte Pearl so jemanden gefunden. Mit ihm war sie nicht einsam gewesen. Wenn sie der fröhliche Schaum auf dem Wellenkamm war, dann Hsu Chih-mo der gewellte Sandboden im Meer.
     
    Asche sammelte sich am Boden des Räuchergefäßes. Die Sonne ging hinter dem Hügel unter, und im Raum wurde es

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