Goldener Bambus
allmählich dunkel.
Jahre später würde ich den Zusammenhang zwischen Pearls Erfolg als Romanautorin und ihrer großen Liebe zu Hsu Chih-mo verstehen. In den achtzig Büchern, die sie über die Dauer ihres Lebens schrieb, setzte sie ihre Liebesbeziehung mit Hsu Chih-mo fort.
»Einen Roman zu schreiben ist wie Geistern nachjagen und sie einfangen«, beschrieb Pearl Buck einmal den Prozess ihres Schreibens. »Der Romanautor ist Gast in herrlichen Träumen. Glücklich ist, wer das einmal erlebt, die Allerglücklichsten erleben es immer und immer wieder.«
Sie gehörte zu den Allerglücklichsten, denn der Geist ihres Liebsten begleitete sie den Rest ihres Lebens. Niemals werde ich den Moment vergessen, als Pearl das letzte Räucherstäbchen anzündete. Sie verfasste ein Gedicht in Chinesisch, in dem sie von Hsu Chih-mo Abschied nahm.
Wilder Sommer lag in deinem Blick
Erde lacht in Blumen
Lust in der Kühle des Grabes
Ich spüre die Hände des Windes
Seele gebeugt vom Gewicht des Kummers
Das Orchideenboot besteige ich allein
Frühlingsregen trübt Laternenlicht
Tiefgrün sind meine Gedanken des Abschieds von dir
Auch ich zählte mich zu den Glücklichen. Obwohl Hsu Chih-mo mich nicht geliebt hatte, hatte er mir vertraut. Dadurch wurde aus unserer gewöhnlichen Freundschaft eine außergewöhnliche. Wir verstanden und mochten uns. Hsu Chih-mo hatte mich gebeten, die Originalmanuskripte seiner Gedichte aufzubewahren, denn seine Frau hatte gedroht, sie zu verbrennen, weil sie »den Duft einer anderen Frau« in den Seiten roch.
Ich wurde die Hüterin von Hsu Chih-mos Geheimnissen. Meine Loyalität ging so weit, dass ich jene Manuskripte nicht einmal Pearl zu lesen gab. Ich möchte gern glauben, dass Hsu Chih-mo mich auf besondere Weise geliebt hatte. Das Wichtigste, was ich von ihm gelernt habe, ist, dass es nie nur einen Blickwinkel auf die Dinge und Gefühle dieser Welt gibt – nicht nur eine Art und Weise, die Wahrheit zu verstehen.
Hsu Chih-mo, der Mann, das Kind, der Dichter, der über die Dinge lächelte, die er nicht verstand, würde immer in meinem Leben bleiben. Ich besaß – im wörtlichen Sinne – seine Poesie, obwohl ich gern sein Herz besessen hätte. Nach dem Tod seiner Frau begann ich, nach und nach seine Gedichte zu veröffentlichen. Ich wollte, dass sein Vermächtnis von Dauer war, und schuf eine Atmosphäre der Mehrdeutigkeit, an der die Öffentlichkeit Gefallen fand. »Soll das Rätselhafte uns durchdringen«, erklärte ich den Journalisten.
Kolumnisten spekulierten darüber, was passiert wäre, wenn Hsu Chih-mo noch lebte. Das Ergebnis war, dass die von mir herausgegebenen Gedichte in vielen Zeitungen abgedruckt wurden. Die Öffentlichkeit lechzte nach Hsu Chih-mo und den immer neuen Enthüllungen über sein Privatleben. Der Tod machte ihn noch berühmter.
Im Verlauf der Zeit sammelte ich alles, was Hsu Chih-mo betraf. Neben Gedichten und Briefen bewahrte ich Kopien der Artikel auf, die über ihn geschrieben wurden, auch den unsinnigsten Klatsch.
Nach Hsu Chih-mos Tod zog ich zurück nach Nanjing, um näher bei Pearl und der Erinnerung an ihn zu sein.
Im Namen des
Nanjinger Tageblatt
organisierte ich eine Hsu-Chih-mo-Konferenz, mit der mein Wunsch erfüllt wurde, seinen Namen aus dem Mund junger Menschen zu hören. Studentinnen der Universität trugen
Die gesammelten Gedichte von Hsu Chih-mo
unter dem Arm wie modische Handtaschen.
Sie erinnerten mich an mich selbst, an die Zeit, als ich ihn liebte, was ich noch immer tat und immer tun würde. Ich flüsterte Hsu Chih-mos Namen bei Tag und bei Nacht, allein oder wenn ich mit Pearl zusammen war.
Menschen aus allen Teilen Chinas kamen zu meiner Konferenz. Zu den Vermutungen und Gerüchten, die um die Frage kursierten, warum Hsu Chih-mo mich als Verwalterin seines Vermächtnisses erwählt hatte, sagte ich einfach: »Wir waren gute Freunde.«
Ich hatte das Gefühl, in einer fiktiven Welt zu leben, denn die Spekulationen über Hsu Chih-mos Mätressen und Schwärmereien trugen wilde Blüten. Die Einzelheiten waren phantasievoll und anschaulich. Einige kamen der Wirklichkeit nahe, doch keine traf ins Schwarze.
Ich belächelte die vielfältigen Mutmaßungen über Hsu Chih-mos Leben und genoss es, als Einzige die vollständige Wahrheit zu kennen.
3 . Teil
21 . Kapitel
H
su Chih-mos Tod erinnerte uns daran, wie fragil das Leben war. Zurückblickend wurde mir klar, dass die Liebe, die Dick und ich für Hsu Chih-mo empfanden, uns verband.
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