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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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Löcher zu graben, deshalb werden sie einfach irgendwo hingelegt, ungefähr tausend Meter von hier. Wenn der Wind aus der falschen Richtung weht, riechen wir den Verwesungsgestank. Irgendwann kommen die tibetanischen Wölfe und Bussarde und fressen die Reste.
    Ich lebe von Blättern, Regenwürmern und Mäusen. Am Ende des Sommers wird es keine Blätter und Regenwürmer mehr geben. Wir haben die Borke von den Bäumen geschält und gegessen, und die Bäume sind abgestorben. Mäuse zu fangen kostet zu viel Energie. Ich esse jetzt »Selbstmordsamen«, eine Art Grassamen, von dem man langsam stirbt. Aber wenigstens nimmt er den Hunger. Ich bin seit Wochen verstopft, und mein Bauch tut so weh, dass ich ab und zu ohnmächtig werde. Du kannst dir nicht vorstellen, wie es hier zugeht: Die Gefangenen holen sich die Exkremente gegenseitig mit den Fingern aus dem After. Ein blutiges Geschäft.
    Chu war mein Partner. Er hatte neun Tage lang keinen Stuhlgang. Ich hab mit einem Essstäbchen versucht, den Kot zu lockern, um ihn dann mit einem Löffel rauszuholen. Aber er war hart wie Stein, und Chu litt furchtbare Schmerzen. Sein Bauch schwoll an wie ein Ballon. Ein anderer Zellengenosse ist gestern an Verstopfung gestorben, ein Arzt aus Shanghai. Er war siebenunddreißig Jahre alt.
    Wenn die Leute hier einschlafen, gehen sie nicht davon aus, wieder aufzuwachen. Seltsamerweise sterben die meisten ruhig im Schlaf, so wie eine brennende Kerze am Ende ausgeht: Die Flamme flackert und wird von der ewigen Dunkelheit geschluckt. Ich denke jede Nacht an Dich. Ich bereue, dass ich Dich wegen Daisy verlassen habe. Sie hat Madame Mao von meinem Bedauern berichtet. Mein dummes Bettgeflüster! Am Ende, kurz bevor ich ins Gefängnis kam, gestand sie mir, eine Spionin von Madame Mao zu sein. Ich wusste, dass Daisy Tagebuch führte, doch nicht, dass es als Waffe gegen mich verwendet würde. Ich glaubte mich auf dem Gipfel meines Erfolgs, als ich ihr sagte: »Menschen machen Fehler. Mao ist ein Mensch. Er macht Fehler.« Daisy meldete meine Bemerkung und wurde dafür befördert. Vor meiner Verhaftung lud Mao mich noch ein, ihn nach Russland zu begleiten. Er ließ mich in dem Glauben, ich sei sein vertrauenswürdigster Mann.
    Es gab nie Hinweise, dass ich bestraft werden sollte. Doch plötzlich hörte ich von Madame Mao, dass Mao wütend auf mich sei. Als Nächstes wurde mir die Mitgliedschaft in der Partei entzogen. Ich sollte ins Gefängnis, weil ich nicht länger ein Genosse war, sondern ein Reaktionär. Auf meine Anrufe oder Briefe hat Mao nicht reagiert.
    Ich weiß, dass meine Treulosigkeit Dich verletzt hat, und habe Dich in Ruhe gelassen, wie Du es wolltest. Ich schreibe diesen Brief, weil ich nicht mehr lange zu leben habe. Mein Bauch ist größer als der einer schwangeren Frau. Reue und Scham nagen an mir. Ich verdiene die Hölle und erwarte nicht, das nächste Jahr zu erleben. Hier gibt es keine Post, und fast niemand verlässt diesen Ort lebend. Falls es Chu doch gelingt und dieser Brief Dich erreicht, sollst Du wissen, dass ich Dich noch liebe und immer geliebt habe, auch als ich ein dummer Mann war.
    Dick
    Mein einziger Gedanke war, Dick zu sehen, bevor er starb. Ich fragte Wegbereiter nicht um Erlaubnis, denn die würde er mir sowieso verweigern. Rouge kaufte die Fahrkarte, und am nächsten Tag verließ ich Chinkiang mit dem Zug. Ich hatte nur einen Stehplatz, denn für einen Sitzplatz reichte das Geld nicht. In den nächsten zweiundsiebzig Stunden stand ich tagsüber und schlief nachts zusammengerollt neben uringetränkten Zeitungen.
    Nach der Fahrt mit dem Zug ging ich zu Fuß weiter. Ich brauchte zwei Wochen, um das Arbeitslager zu erreichen. Dort ließen sie mich tagelang warten, bevor sie mir sagten, dass Dick schon gestorben war. Er war für den Diebstahl von Lebensmitteln bestraft worden. Es hieß, Dick habe den Tod eines Mitgefangenen nicht gemeldet und dessen Essensration für sich behalten. Er hatte so lange neben der Leiche geschlafen, bis ihn der Verwesungsgestank verriet. Daraufhin gaben ihm die Gefängniswächter nichts mehr zu essen, und er starb.
    Bei der Vorstellung, dass Dick neben einer Leiche geschlafen hatte, musste ich weinen. Ich bat darum, seine Überreste identifizieren zu dürfen. Da es mir verweigert wurde, ging ich ins Gefängnishauptquartier und begann einen Hungerstreik. Nach einer Woche wurde ich zu dem offenen Friedhof gebracht, den Dick in seinem Brief erwähnt hatte.
    Wie von ihm beschrieben, waren die

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