Goldener Bambus
Ich stellte mir vor, dass die Möbel in ihrem Haus aus rotem Sandelholz im Stil der chinesischen Ming-Dynastie waren. Ich sah die Bilder an ihren Wänden, wunderschöne chinesische Tuschmalereien und Kalligraphien. Und ich imaginierte Pearl als Bildhauerin. Sie hatte mir einmal erzählt, dass sie gern Bildhauerei lernen würde. Früher hatten wir den Kunsthandwerkern in Chinkiang zugesehen, wie sie aus süßem Mehl Figuren formten, und für drei Pennys unsere bunten Lieblingstiere oder -opernfiguren gekauft. Auf dem Spielplatz hinter den Hügeln hatten Pearl und ich uns gegenseitig Modell gestanden und unsere Köpfe aus Lehm geformt. Um unsere Eigenheiten zu betonen, hatte ich ihr eine lange Nase und sie mir schräge Augen gegeben. Beide Gesichter lächelten, weil wir beim Modellieren so lachen mussten.
Ich träumte von Pearls Spielzeugherd, den Caries Gärtner hinter dem Hügel gebaut hatte. Man konnte richtig darauf kochen, und Wang Ah-ma zeigte uns, wie man Yamswurzeln zubereitete und Sojabohnen und Erdnüsse röstete. Noch immer hörte ich Pearl und mich die Bohnen kauen, als hätten wir Zähne aus Stahl.
Seit meiner Rückkehr nach Chinkiang betete ich gemeinsam mit Papa. Über mein spirituelles Leben hatte Wegbereiter keine Macht. Mein Widerstand gegen die Kommunisten wuchs. Ich beschloss, die Menschenmenge mit meinen Bekenntnissen zu langweilen, sie mit Mao-Zitaten, Parolen und Selbstbeschimpfungen zu überhäufen. Mein erster Satz lautete immer: »Ich war eine Katze, die sich verirrt hatte und von den Lehren des Vorsitzenden Mao nach Hause geführt wurde.« Mein zweiter Satz war: »Obwohl ich niemals ein Wort von
Die gute Erde
gelesen habe, ist mein Wunsch, das Buch zu lesen, reaktionär und kriminell.«
Sobald Wegbereiter mit seinen Vorträgen und seiner Kritik fertig war, musste ich die Parolen aufsagen, die die Menschenmenge nachschrie: »Verbrennt, verfeuert, bratet und grillt Weide, wenn sie nicht kapituliert!« Zu meiner eigenen Belustigung variierte ich die Sprüche. »Nieder mit Weide Yee« wurde zu »Nieder mit dem amerikanischen Lakaien Weide Yee!«, oder »Nieder mit der großen Lügnerin, der großen Verräterin, der großen Bourgeoisen, der großen Schlange und der großen verrotteten, arschlosen, dreckigen und giftigen Spinne Weide Yee!« Indem ich immer längere Sätze vorsagte und Parolen erfand, gerieten die Menschen in Atemnot. Meiner Lieblingsparole konnten nur wenige folgen: »Lang lebe unser großer Führer, großer Lehrer, großer Steuermann, des großen Führers und Vorsitzenden Mao große, ruhmreiche und ewig richtige revolutionäre Linie!«
Im Winter hielt Wegbereiter eine politische Kundgebung im ehemaligen Festsaal der Britischen Botschaft ab. Die Menschen mussten stundenlang auf dem Boden sitzen. Während meiner Geständnisse rauchten die Männer Zigaretten und spielten Karten, die Frauen stopften Kleider und strickten. Alte Leute schliefen, und Babys schrien. Wegbereiter beschuldigte mich, dass meine Geständnisse nicht aufrichtig seien. Er kam zu dem Schluss, dass ich mich absichtlich einer Umerziehung widersetzte und weiter bestraft werden musste.
Ich wurde zum Sklaven der Stadt.
Wenn jemand Mitleid mit mir hatte, warnte Wegbereiter: »Das Wort Gnade existiert in unserem proletarischen Wörterbuch nicht.«
Wegbereiter beschloss, die Einwohner von Chinkiang »über Nacht dem Kommunismus zuzuführen«, und verbot die Benutzung von Nachttöpfen. Alle mussten auf die öffentlichen Klos gehen, die niemandem gehörten und somit niemand saubermachte. Es waren Brutstätten von Maden, Fliegen und Stechmücken, und es wurde meine Aufgabe, sie zu reinigen.
Ich arbeitete Tag und Nacht. Rouge half mir, wenn sie konnte. Sie war jetzt Betonmischerin bei einer Baufirma, weil eine Verwandte ihres Vorgesetzten ihre Stelle als Textilarbeiterin bekommen hatte. Kurz vor dem chinesischen Neujahr 1970 erhielt Rouge den Befehl, sowohl die Tag- als auch die Nachtschicht zu arbeiten. Ich musste die öffentlichen Klos allein putzen. Während meine müden Hände die Wände der kotverschmierten Plumpsklos reinigten, war ich ratlos und erschöpft und fragte mich: »Wozu soll ich noch weitermachen?«
Ich durfte nicht weinen, weil ich dann alle geweckt hätte. Papa schlief, und Rouge arbeitete. Die Gedanken an Dicks Krankenschwester-Sekretärin verfolgten mich ständig. Endlich hatte ich ihren Namen erfahren, sie hieß Daisy. Vor mir sah ich ihr Mondgesicht, ihre großen Augen und den Mund, der
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