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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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Strategien, um unnötige Opfer zu vermeiden, und lehrte seine Gemeinde am eigenen Beispiel, mit der Obrigkeit umzugehen. Einmal simulierte Papa einen Nervenzusammenbruch. Er behauptete, von plötzlich wiederkehrenden Erinnerungen aus der Zeit, als Absalom ihn »vergiftet« hatte, heimgesucht zu werden. Auf öffentlichen Kundgebungen zeigte er mit dem Finger auf sich und schrie: »Nieder mit Absaloms Lakai Nummer eins!« Dabei ging unterdrücktes Gelächter durch die Menge.
    Wenn er zur Selbstkritik aufgefordert wurde, sagte Papa: »Meine Hände würden jetzt eifrig eure Taschen leeren, hätte Absalom mir nicht Jesus Christus nahegebracht.«
    Wegbereiter versuchte, Papa zum Schweigen zu bringen. »Wie kannst du es wagen, diesen amerikanischen Kulturimperialisten zu rühmen!«, schrie er.
    »Nieder mit Absalom!«, schrie Papa zurück und stieß die Fäuste in die Luft. »Ich salutiere Genosse Wegbereiter!« Er drehte sich zu Maos Porträt an der Wand um und verbeugte sich tief. »Ich habe noch mehr zu gestehen, Vorsitzender Mao!«
    »Mehr Geständnisse!«, jubelte die Menschenmenge. »Mehr Geständnisse!«
    »Der Vorsitzende Mao lehrt uns, ›die Massen durch die Bloßstellung der Gräueltaten unseres Feindes zu erziehen‹«, fuhr Papa fort. »Also sage ich euch, was Jesus Christus getan hat.«
    Von Papa lernte ich, »nicht gegen den Strom zu schwimmen«. Zwar schmerzte es mich immer noch, wenn Kinder mich böse nannten, doch ich fühlte mich nicht mehr schuldig. Meine wahre Genesung begann, als ich Papa mit seiner Guerillakirche half.
    Zu seiner Verwunderung bekam Papa schockierende Geständnisse zu hören. Anfangs erzählte er mir nichts davon, aber später schon. Ich erfuhr, dass Zimmermann Chan gestanden hatte, heimlich Mitglied der Kommunistischen Partei zu sein und dass Wegbereiter sein Anführer war. Chan war 1949 der Partei beigetreten in der Überzeugung, Mao und die Kommunisten würde sich für die Armen einsetzen. Damals musste er über Papa Bericht erstatten, doch ihm waren Zweifel gekommen, als er merkte, wie schäbig und machthungrig Wegbereiter war. Im Laufe der Jahre war Zimmermann Chan zu der Erkenntnis gelangt, dass Wegbereiter ein falscher Prophet und Mao ein falscher Gott war.
     
    Meine Kindheitserinnerungen waren wie prächtige kaiserliche Paläste, in denen ich wandelte und verweilte. Oft stellte ich mir vor, dass Pearl und ich uns wiedersahen. Das war mein liebster Tagtraum. Ich fühlte mich Gott am nächsten, wenn ich an Pearl dachte. Diese Momente waren für mich, als würde ich ein Geschenk des Himmels öffnen.
    Im Gegensatz zu mir war meine Tochter Rouge Realistin, was durch den Tod ihres Vaters noch verstärkt wurde. Für sie waren Erinnerungen etwas anderes als für mich, und sie wählte das Vergessen über das Erinnern.
    Ich lebte mit Rouge zusammen, bis sie Mitte vierzig war und endlich heiratete. Mein Schwiegersohn arbeitete als Techniker in einer Eisenwarenfabrik, hatte seine Frau durch Krankheit verloren und Mühe, seine beiden Töchter aufzuziehen. Ich war froh, als Rouge ihn heiratete und seine Kinder adoptierte. Ein Jahr später bekam sie selbst ein Mädchen. Am liebsten ging ich mit meinen Enkelkindern zu den Orten, wo Pearl und ich Versteck gespielt hatten. Ich genoss den Sonnenschein und die sanfte Hügellandschaft, besonders wenn der Wind zart mein Gesicht umspielte. In solchen Momenten vergaß ich mein Alter. Ich fühlte mich wieder wie ein junges Mädchen, bis dann eine meiner Enkelinnen Caries Lieblingslied sang und mir bewusst wurde, dass sie nicht Pearl war. Dann fragte ich mich stets, ob Pearl wohl noch lebte.
     
    Am Tag vor dem chinesischen Neujahr 1971 hielt Papa eine Überraschung für mich bereit.
    »Pearl Buck gibt in der ›Stimme Amerikas‹ ein Interview!« Papa konnte seine Freude kaum unterdrücken.
    Dann lebte sie also! Ich sank auf die Knie und dankte Gott. Es war siebenunddreißig Jahre her, dass ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. Meine Haare waren jetzt weiß, und ihre sicher auch.
    Es nutzte nichts, dass Papa die Leute anhielt, nicht zu kommen.
    »Es ist der Radiosender des Feindes«, warnte er. »Ihr geltet als Verräter, wenn ihr beim Zuhören erwischt werdet. Dann kommt ihr ins Gefängnis.«
    Der Tag wurde sorgfältig geplant. Die geheime Zusammenkunft würde als Neujahrsbankett getarnt werden.
    Überrascht sah ich Wegbereiter und seinen Assistenten mit dem Spitznamen Seewolf kurz vor der Ausstrahlung des Programms die Kirche betreten.
    »Sekretär

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