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Goldener Bambus

Goldener Bambus

Titel: Goldener Bambus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anchee Min
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Wegbereiter, willkommen, bitte setzt euch doch«, begrüßte Papa die beiden lächelnd.
    Ich nahm Papa zur Seite und flüsterte: »Hast du den Verstand verloren?«
    Papa ignorierte mich. Er holte das Radio herbei und stellte es auf.
    »Bring den besten Wein für unseren Chef«, sagte er.
    Die Leute kamen langsam aus ihren Schlafkisten gekrochen und hangelten sich die Strickleitern herunter. Zimmermann Chan und Lilac stellten sich neben Papa, dahinter waren Kaiser Kohlkopf und seine Blutsbrüder.
    Der Flur und der Essensbereich waren bald voller Menschen.
    Papa schenkte Wein aus und sorgte dafür, dass das Glas von Wegbereiter und Seewolf bis zum Rand gefüllt war, während alle anderen nur einen Fingerbreit bekamen. Papa sprach einen Toast aus. »Wir trinken als Zeichen unserer Loyalität gegenüber dem Vorsitzenden Mao!«
    Papa wartete, bis Wegbereiter das Glas geleert hatte, schenkte es wieder voll und stieß auf Maos Gesundheit an. Die Gläser wurden geleert und neu gefüllt. Papas dritter Trinkspruch galt dem Sieg der Kulturrevolution, der vierte Wegbereiters fortgesetztem Erfolg beim Führen Chinkiangs in den Kommunismus.
    Als Wegbereiter vom Stuhl auf den Boden glitt, hatte sein Gesicht die Farbe eines Hahnenkamms. Seewolf war zwar noch wach, doch Papa ignorierte ihn und wechselte den Radiosender. In der Kirche erklang die »Stimme Amerikas«.
    Wir lauschten aufmerksam.
    Der Gastgeber stellte Pearl S. Buck auf Mandarin vor.
    Mir blieb die Luft weg, als ich eine weibliche Stimme im Chinkianger Mandarin sagen hörte: »Ein glückliches chinesisches Neujahr! Mein Name ist Pearl Sydenstricker Buck.«
    Im ersten Moment zweifelten wir alle an unseren Ohren und dachten, es wäre nur Einbildung.
    Doch im Verlauf des Gesprächs wurde uns klar, dass wir nicht phantasierten.
    »Sie ist es! Unsere Pearl!« Vor Freude hüpften wir auf und ab und umarmten uns gegenseitig.
    »Auch dir ein glückliches neues Jahr, Pearl!«, sagte Papa lächelnd. Tränen liefen über seine Wangen.
    Es war, als hätte sie China nie verlassen. Ihr Akzent war noch der gleiche, der Klang ihrer Stimme sanft und klar. Sie fing an, uns von ihrem Leben zu erzählen. Wir verstanden kaum, wovon sie sprach, als sie über Dinge wie die Große Depression und den Vietnamkrieg redete. Aber das spielte keine Rolle. Wir hatten uns versammelt, um ihre Stimme zu hören. Allein die Tatsache, dass sie lebte, machte mich glücklich.
    Pearl sprach über ihre Bücher, einschließlich ihrer Übersetzung von
Alle Menschen sind Brüder
. Sie erwähnte, dass
Die gute Erde
verfilmt worden war. »Obwohl es ein wunderbarer Film ist«, sagte sie, »fürchte ich, dass er Ihnen in China nicht gefällt, weil die Chinesen von westlichen Schauspielern dargestellt werden. Sie haben alle lange Nasen und sprechen Englisch.« Sie erzählte, dass sie in Pennsylvania lebte und acht Kinder adoptiert hatte, die meisten asiatischer Herkunft.
    Wir weinten, als Pearl sagte, sie wollte China besuchen.
    »Je älter ich werde, desto deutlicher sehe ich meine Jugendjahre vor mir.« Wir konnten die Emotionen in Pearls Stimme hören. »Wenn ich die Augen schließe, sehe ich die Hügel und Felder von Chinkiang in der Morgen- und in der Abenddämmerung, im Sonnenschein und im Mondlicht, im sommerlichen Grün und winterlichen Weiß.« Sie sagte, am meisten vermisse sie die chinesische Neujahrsfeier. »Wenn ich jetzt im Moment dort bei Ihnen wäre, würde ich mit meinen Freunden ein Bankett abhalten. Wir alle wissen, dass Chinesen leben, um zu essen.«
    Der Gastgeber bat sie, den Zuhörern eine typische Szenerie in Chinkiang zu beschreiben.
    Sie hielt einen Moment inne, dann sagte sie: »Ein typisches Bild ist für mich Dunst über dem großen Teich, der von Trauerweiden gesäumt wird. Am Himmel ziehen Schleierwolken vorüber, und das Wasser schimmert silbern. Das bildet den Hintergrund für einen großen weißen Fischreiher, der auf einem Bein steht.«
    Ich stellte mir das Lächeln im Gesicht meiner Freundin vor und ließ meinen Tränen freien Lauf.
    Pearl fuhr fort. »Meine amerikanischen Freunde loben chinesische Künstler gern für ihre lebhafte Phantasie, aber lassen Sie mich Ihnen sagen, dass die Künstler nur das wiedergeben, was sie sehen. Ich bin dort aufgewachsen und habe vierzig Jahre meines Lebens solche Anblicke genossen. Das ist das China, das ich kenne und in dem ich im Geiste noch immer lebe.«
    Seewolf bekam furchtbare Angst, als er das hörte. Er war nicht betrunken und wusste, was

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