Goldener Bambus
Toten nicht beerdigt worden. Überall lagen Leichen und Knochen herum. Ich stolperte von einer Leiche zur nächsten und suchte meinen Mann. Es war fast unmöglich, jemanden wiederzuerkennen. Doch ich wollte nicht aufgeben und fand ihn nach mehreren Stunden. Dick war nackt, doch ich erkannte ihn an einer Narbe wieder. Sein Leichnam war von Aasgeiern aufgerissen und von wilden Hunden angefressen worden.
Ich fiel in Ohnmacht. Als ich aufwachte, hatte ich Mühe, mich an Dicks Gesicht von früher zu erinnern. So wie jetzt wollte ich ihn nicht in Erinnerung behalten. Ich ging los und fand einen Bauern, der einen Esel besaß. Ich gab ihm Geld, damit er mir etwas Benzin und Brennholz brachte. Mit einer geliehenen rostigen Schaufel grub ich ein Loch und legte das, was von meinem Mann noch übrig war, hinein. Ich verteilte das Brennholz auf ihm, schüttete Benzin drauf und zündete ihn an. Hinterher sammelte ich Dicks Knochen ein, aber es waren zu viele und sie passten nicht alle in meine Tasche. Die meisten ließ ich zurück. Ich hätte nie gedacht, dass Dick einmal so enden würde.
Als ich nach Chinkiang zurückkehrte, hielt Papa eine Trauerfeier für Dick ab. Wir luden nur Leute ein, die Dick gekannt hatten. Ich wollte General Chu dabei haben, konnte ihn aber nirgends finden. Er hatte sich versteckt. Papa sagte, das Gefängnisleben habe ihn vorsichtig und misstrauisch gemacht. »Behalten wir ihn als loyalen Freund Dicks in Erinnerung.«
»Was zählt, ist, dass Chu sein Leben riskierte, um Papas Brief zu überbringen«, sagte Rouge.
»Bestimmt hat Gott General Shu geführt«, stimmte Papa zu.
Ich erinnerte mich an Chus Worte, dass er sich glücklich geschätzt hatte, der Bote gewesen zu sein, weil er bald wieder mit Dick zusammen sein würde. Mich zu finden, war für ihn das schönste Geschenk, das er seinem Freund machen konnte.
Ich verbrannte Dicks Schriften, die ich all die Jahre aufbewahrt hatte. Dick hätte das so gewollt. Er hatte Mao und den Kommunismus verehrt und aus ganzem Herzen an die Sache geglaubt.
Dicks letzten Brief hob ich für Pearl auf, obwohl ich keine Ahnung hatte, ob wir uns jemals wiedersehen würden. Es wurde immer unwahrscheinlicher, dass ich noch einmal mit meiner Freundin zusammenkommen würde. Die Kinder in China kannten Amerika jetzt nur noch als Feind, und es wurde immer schlimmer. Ich fragte mich, ob Pearl amüsiert oder entsetzt darauf reagiert hätte, dass Mao eine Proletarierin aus ihr machen wollte.
31 . Kapitel
P
apa war ein Meister im Austricksen von Behörden. »Mao hat einen Guerillakrieg gekämpft und China erobert«, sagte er zu seiner Kirchengemeinde. »Wir müssen nur seinem Beispiel folgen, um im Namen Gottes Seelen zu retten.«
Ich warnte Papa, dass er sich Ärger einhandeln würde.
»Ich bin gegenüber Mao im Vorteil«, erwiderte Papa zuversichtlich. »Ich habe das Radio.«
Doch ich machte mir Sorgen. »Du wirst im Gefängnis landen.«
»Da war ich schon vor deiner Rückkehr.« Er hielt drei Finger hoch. »Dreimal hab ich in dem versifften Loch gesessen. Was sollen die Behörden auch sonst mit einem Hundertjährigen anstellen?«
Papa erinnerte mich immer mehr an Absalom. Er taufte Kinder, schloss Ehen und beerdigte Tote. Mit der Wahl seiner Worte hielt er die Regierungsspione zum Narren, begann die Zeremonien traditionell und beendete sie christlich, ohne dass jemand es merkte – nicht einmal die Spitzel, die sich untermischten. Maos kleines rotes Buch in der Hand, eröffnete er seine Predigt mit den Worten: »Wir sind Menschen aus allen Gesellschaftsschichten« und beendete sie mit einem Zitat aus der Bibel: »Wer viel gesammelt hatte, hatte nicht zu viel; und wer wenig, hatte nicht zu wenig.«
Papa entwickelte eine Sprache, die nur seine christliche Gemeinde verstand. Wenn er Gott meinte, sprach er vom »Wolkenwanderer«, »handverlesen von Karl Marx« war ein Synonym für Höllenstrafe, das »Zitatenbuch« eins für die Bibel, und mit »revolutionärer Mission« meinte er Errettung.
Bei den Feiern zum zweiundzwanzigsten Unabhängigkeitstag Chinas wurde Papa zum vierten Mal verhaftet, wegen der Verbreitung vergifteten Gedankenguts. Um der Folter zu entgehen, gestand er alles, denunzierte sich selbst und machte Versprechungen, die er nicht zu halten gedachte.
Als er nach Hause kam, zitierte er ein chinesisches Sprichwort: »Ein Held ist jemand, der nicht gegen den Strom schwimmt.«
Im Namen Gottes vergab Papa sich selbst. Er nannte seine Lügen
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