Goldener Reiter: Roman (German Edition)
an, immer nur selbst gemalte Bilder. Bäume und Segelboote und Häuser und Regenbogen und ein Schmetterling. Andere Irre sitzen am Ende des Flurs auf Sofas und Sesseln. Sie rauchen Zigaretten und sehen auf die Tischplatte. Sie sehen uns nicht an. Sie sehen einander nicht an. Sie starren vor sich hin. Sie rauchen Zigaretten und gucken auf die Tischplatte.
Unter Neonlampen gehen wir den Flur entlang. Neonlampe hinter Neonlampe. Ich gehe neben meiner Mutter. Die Krankenschwester geht vor uns.
Das ist Ihr Zimmer, Frau Fink, sagt die Krankenschwester. Meine Mutter sagt nichts. Sie starrt in das Zimmer. Ich starre in das Zimmer. Zwei Betten stehen darin. Auf dem einen Bett sitzt eine Frau. Ihre Schultern hängen herunter. Ihre Haare hängen herunter. Das ist Frau Hoffmeister, sagt die Krankenschwester.
Tach, sagt die Frau auf dem Bett, mit einer Stimme, die klingt, als käme sie aus einer Spieluhr. Die Frau hat braune Augenringe. Sie hat fettige Haare. Meine Mutter drückt meine Hand. Sie sagt nichts. Meine Mutter will nicht in dieses Zimmer. Das weiß ich. Vor dem Fenster kann man eine Rasenfläche sehen und Bäume dahinter. Hinter den Bäumen ist die große Straße, auf der wir gekommen sind. Auf der Rasenfläche hüpfen zwei Elstern herum. Ich will auch nicht in dieses Zimmer. Und ich will nicht, dass meine Mutter in dieses Zimmer geht. Wer sagt mir, dass meine Mutter aus dem Zimmer wieder herauskommt? Wer sagt mir, dass meine Mutter aus Ochsenzoll wieder herauskommt? Ich will nicht, dass meine Mutter eine Frau auf einem Bett wird, an der alles herunterhängt. Ich will raus aus Ochsenzoll, sofort.
Ich sehe meine Mutter an. Sie steht neben der Krankenschwester. Ich will allerdings auch nicht wieder mit meiner Mutter allein sein. Ich will nicht, dass meine Mutter mit mir nach Hause kommt. Die Krankenschwester nimmt meine Mutter am Arm. Sie führt meine Mutter in das Zimmer. Meine Mutter lässt meine Hand los.
Und jetzt kümmern wir uns um dich, sagt die Ärztin. Du musst dich jetzt von deiner Mutter verabschieden.
Mama, sage ich. Meine Mutter dreht sich um. Ihr laufen die Tränen über das Gesicht. Ich nehme meine Mutter in den Arm. Oder sie nimmt mich in den Arm, ich bin mir nicht sicher. Meine Mutter fühlt sich steif an.
Die Ärztin hat die Hand auf meiner Schulter, als wir im Fahrstuhl abwärts fahren. Ich schaue nicht in den Spiegel, ich schaue die Fahrstuhltür an.
Morgen kommst du wieder und bringst deiner Mutter die Sachen, die wir aufgeschrieben haben, sagt sie.
Dann hält sie mir die Tür von einem Taxi auf und ich setze mich in glattes, kaltes Leder.
48
Ich habe den Haustürschlüssel in der Hand. Es ist eine Stimme in meinem Kopf. Es gibt die Stimme nicht wirklich. Die Stimme sagt:
Er hat den Schlüssel in der Hand. Er schließt die Haustür auf. Er bleibt in der Haustür stehen. Er schaut. Die Schuhe seiner Mutter stehen da. Sie stehen an ihrem Platz. Sie stehen, wo sie immer stehen. Seine Turnschuhe stehen daneben. Er hat die Haustür aufgeschlossen. Er steht in der Haustür und riecht. Es riecht nach Zigaretten im Haus. Es riecht, als würde seine Mutter im Wohnzimmer sitzen. Er will nicht in das Haus hinein. Er wird in diesem Haus nicht bleiben können. Er zieht seine Schuhe aus. Er zieht seine Jacke aus. Er hängt die Jacke an die Garderobe. Er betrachtet sich im Spiegel. Die Stimme gibt ihm einen Befehl: Taschen packen!
Er muss Taschen packen. Damit er saubere Sachen anziehen kann. Eigentlich würde er gerne in seinem Haus bleiben. Aber das Haus ist zu groß für einen Jungen. Was ist, wenn es dunkel wird in diesem Haus? Wenn die Zimmer in der Dunkelheit größer werden und die Stille drückender? Und Geräusche aus den anderen Räumen an ihn herankriechen? Räumen, in denen er nicht im Bett liegt? Nein, sagt die Stimme, er kann nicht hier bleiben. Er will nicht mehr in diesem Haus sein, wenn es dunkel wird. Er muss sich beeilen. Taschen packen, sagt die Stimme. Er muss seiner Mutter Anziehsachen ins Krankenhaus bringen. Nach Ochsenzoll. Seine Mutter lebt nun in Ochsenzoll. Er lebt bei Mark. Es riecht nach Zigaretten im Haus. Er muss die Fenster auf kipp stellen.
Er geht ins Wohnzimmer. Schallplattenhüllen liegen auf dem Sofa. Ein Aschenbecher steht auf dem Tisch. Er schaut in den Garten. Die Lärmschutzmauer ist vor Blättern nicht zu sehen. Es ist Sommer geworden. Es ist Sommer, und er hat es nicht mitgekriegt.
In der Küche stehen schmutzige Teller. Schmutzige Gläser und Tassen
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