Goldener Reiter: Roman (German Edition)
erkennen. Meine Mutter steht am Bordstein und unterhält sich mit der Mutter von Mark. Sie raucht nicht. Sie hat beide Hände in den Manteltaschen. Sie schaut dem Bus entgegen. Frau Bloom schaut auch zum Bus. Dirk stellt den Walkman aus und winkt seiner Mutter, die neben einem Vater mit Glatze steht. Meine Mutter schaut mich an. Ernst schaut sie, als würde sie mich nicht gleich erkennen. Dann lächelt sie. Der Bus rollt an den Eltern vorbei. Der Fahrer muss den Bus wenden. Alle stehen auf. Sie holen ihre Jacken und die Rucksäcke von der Ablage. Ich bleibe sitzen und sehe ihnen zu. Ich sehe aus dem Fenster. Ich sehe Dirk an, Mark, Nicole.
Hallo, sage ich.
Hallo, sagt meine Mutter. Mark gibt seiner Mutter einen Kuss.
Tschüs, Mark, sage ich.
Tschüs, sagt Mark.
Tschüs, rufe ich Dirk zu. Dirk erzählt seiner Mutter etwas. Nicole lächelt mich an.
Tschüs, sage ich. Meine Mutter will meinen Koffer nehmen.
Lass, sage ich, ich trage den Koffer.
Okay, sagt sie und streicht mir über den Rücken.
Ich gehe mit meiner Mutter nach Hause. Wie war’s?, fragt sie.
Gut, sage ich. Nicole geht mit ihrer Mutter auf der anderen Straßenseite. Die Mutter von Nicole trägt die Tasche. Nicole schaut zu mir und meiner Mutter herüber. Sie schaut sich meine Mutter an. Meine Mutter nimmt meine Hand. Sie nimmt mich bei der Hand, als wäre ich noch ein Kind.
Ich freue mich, dass du wieder da bist, sagt sie.
Mama, sage ich und ziehe meine Hand aus ihrer.
44
Du bist, sage ich. Meine Mutter guckt vor sich hin. Sie guckt durch die Tischplatte hindurch, obwohl die Tischplatte aus Holz ist. Sie sieht die Karten auf dem Tisch nicht. Sie guckt, als könnte sie durch die Tischplatte hindurchgucken, als läge auf dem Teppich unter dem Tisch etwas Interessantes. Ich habe die verkehrte Karte umgedreht, den zweiten Seestern, den hatten wir noch nicht. Eigentlich bin ich auf der Suche nach dem Schmetterling. Dem kleinen schwarzweißen, nicht dem großen blauen auf rotem Grund. Meine Mutter ist dran.
Mach, sage ich.
Ja, sagt sie. Sie blickt vom Tisch auf und lächelt. Sie soll sich beeilen. Ich weiß, wo der andere Seestern ist. Ich will wieder drankommen, bevor sie mir den Seestern wegschnappt. Meine Mutter dreht zwei Karten um. Sie hat die Karten schon ein paar Mal umgedreht. Die Karten, die ihr am nächsten liegen. Die Karten liegen direkt vor ihr. Die Pfauenfeder und das Seepferdchen, das hätte ich ihr sagen können. So bringt das keinen Spaß. Meine Mutter gibt sich keine Mühe. Meine Mutter ist zu schlecht. Wie kann ein so intelligentes Kind wie ich eine so dumme Mutter haben? Mein Stapel ist groß. Ihr Stapel ist winzig. Sie hat erst ein Paar zusammengesucht. Ich gewinne immer beim Memory. Zumindest wenn ich gegen meine Mutter spiele. Ich habe ein zu gutes Gedächtnis für sie. Ich vergesse niemals etwas. Ich kann mir zumindest merken, wo die Pfauenfeder und das Seepferdchen liegen, wenn sie schon ein paar Mal umgedreht wurden. Meine Mutter kann das nicht.
Du strengst dich nicht an, sage ich.
Doch, sagt meine Mutter.
Sie schaut ihre Hände an, die auf der Tischplatte liegen.
45
Ich liege im Bett. Ich sehe mir beim Im-Bett-Liegen zu. Das heißt, eigentlich fühle ich mir beim Im-Bett-Liegen zu. Ich wandere mit meinen Gedanken durch meinen Körper. Ich kontrolliere, wie es sich anfühlt, im Bett zu liegen. Ich liege auf der Matratze. Die Bettdecke liegt auf mir. Ich muss mich bewegen. Ich halte es nicht aus, einfach nur so dazuliegen. Ich liege schon zwei Stunden so da. Meine Zimmertür ist angelehnt. Von unten fällt Licht in mein Zimmer. Der Rollladen ist heruntergelassen. Früher bin ich zu meiner Mutter gegangen, wenn ich nicht einschlafen konnte. Mama, habe ich gesagt, ich kann nicht einschlafen. Trink ein Glas Milch, hat meine Mutter gesagt. Und eine Viertelstunde später: Mama, ich kann immer noch nicht einschlafen. Darf ich mich in dein Bett legen?
Ich stehe auf. Ich kann nicht liegen. Ich gehe die Treppe hinunter. Der Fernseher läuft, das kann ich durch das Glas in der Wohnzimmertür erkennen. Fernseher machen blaues Licht, obwohl die Sendungen bunt sind.
Ich öffne den Kühlschrank und hole die Milch heraus. Milch macht müde. Aber Milch funktioniert nicht immer. Ich trinke die Milch aus der Tüte. Ich trinke Weiß. Weiß fließt hinab in meinen Bauch. Ich gehe hinauf in mein Zimmer. Ich lege mich in mein Bett. Ich schaue meinen Wecker an. Ich lege mich unter die Decke und mache die Augen zu.
Wir stürmen
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