Goldener Reiter: Roman (German Edition)
kann aus dem Fenster und in den Wagen gucken. Hinter mir an der Wand hängt ein Streckenplan. Das habe ich herausgefunden. Ich habe Marks Plan in der Hand. Im Plan steckt der Zettel mit den Zeiten. Da kann ich kontrollieren, ob ich richtig bin. Ich bin ein Streckenforscher. Flughafenstraße ist die nächste Station. Ich habe mir Proviant eingepackt. Ich habe mir bei Blooms in der Küche ein Marmeladenbrot gemacht. Das Brot habe ich in einem Taschentuch verpackt. Ich habe einen Apfel eingesteckt. Da stehen Pferde auf einer Weide.
Die U-Bahn fährt in den Bahnhof ein. Die Bierdose rollt. Flughafenstraße steht auf dem Schild. Das heißt, dass ich richtig bin. Ich zähle noch einmal nach. Vier Stationen bis Ochsenzoll. Die nächste Station müsste Langenhorn Markt sein. Der Mann mit den Haaren zerdrückt seine Bierdose. Er quetscht die Dose in den Abfalleimer.
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Ochsenzoll steht auf dem Schild. Aber der U-Bahnhof sieht gar nicht aus wie eine Irrenanstalt. Er sieht bloß aus wie ein U-Bahnhof. Es gibt eine Böschung neben den Gleisen und ein Dach über dem Bahnsteig und einen Kiosk in der Mitte. Eine Frau in einem braunen Mantel kauft ein belegtes Brötchen. Ich stehe da mit der Unterwäschetasche. Ich muss daran denken, wie ich selber einmal im Krankenhaus gelegen habe, als ich klein war. Ich hatte eine Operation. Ich lag in einem Vierbettzimmer und ich war der Kleinste von allen. Außer mir lagen noch zwei Große in dem Zimmer und ein sehr kranker Junge mit einer Brille, der an einem Tropf hing. Dieser Junge war so krank, dass er nicht reden konnte. Die beiden Großen haben sich über den Jungen am Tropf lustig gemacht. Sie haben sich auch über mich lustig gemacht, weil ich zu große Pantoffeln tragen musste. Ich hatte keine eigenen Pantoffeln, weil wir zu Hause auf Socken herumlaufen. Alle anderen im Krankenhaus hatten eigene Pantoffeln.
In unserem Zimmer gab es nur drei Waschlappen. Mit den Waschlappen mussten wir uns morgens und abends waschen. Es gab drei Waschlappen und eine Mädchenunterhose. Eine rosa Mädchenunterhose mit kleinen Blumen darauf. Es war eine gebrauchte Mädchenunterhose. Die Jungen haben bestimmt, dass ich mich mit der Mädchenunterhose waschen musste. Ich musste mich mit der Mädchenunterhose waschen, ich, nicht der kranke Junge mit der Brille. Ich weiß nicht, warum ich an diese Geschichte denken muss.
Es gibt nur einen Ausgang an einer Seite des Bahnsteigs. Es sind normale Leute auf dem Bahnsteig. Es gibt zwei Treppen, eine links und eine rechts. Über der linken Treppe hängt ein Schild: Allgemeines Krankenhaus Ochsenzoll . Das ist meine Treppe. Ochsenzoll-Treppe.
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Die Tür geht auf, eine Krankenschwester hat sie aufgemacht. Es ist nicht die gleiche vom letzten Mal. Sie ist dicker und hat blonde Haare.
Ich möchte zu Frau Fink, sage ich. Ich bin der Sohn von Frau Fink. Die Krankenschwester lächelt. Krankenschwestern lächeln immer. Es gehört mit zu ihrem Beruf.
Wartest du einen Augenblick?, lächelt sie.
Nein, sage ich, ich gehe jetzt wieder weg und komme niemals wieder. Ja, sage ich. Ich warte. Ich habe eine Tasche in der Hand. Die Tür gibt ein Stück Irrenanstalt frei: selbst gemalte Bilder an den Wänden.
Die Krankenschwester führt eine Frau an die Tür. Sie stellt die Frau vor mir ab. Die Frau hat hängende Schultern. Ich schaue die Hände von der Frau an. Die Finger zucken. Das Haar von der Frau hängt platt vom Kopf. Die Frau schaut mich an. Ich versuche zu lächeln. Die Frau hat trübe Augen. Ich glaube, es soll ein Lächeln sein, aber es ist kein Blick in diesen Augen. Sie kommt auf mich zu und umarmt mich. Ich will nicht, es fühlt sich komisch an. Ich will von dieser Frau nicht umarmt werden.
Joni, sagt die Frau.
Mit einer Stimme, bei der man alles weggelassen hat. Einfach alles vergessen bei dieser Stimme. Krankenschwester, wo ist die Stimme von dieser Frau? Können Sie bitte suchen helfen, bitte? Die Krankenschwester lächelt. Sie steht neben mir und der Frau. Ich möchte hinaus, sagt die Frau.
Sie wissen doch, zurzeit dürfen Sie nur in Begleitung des Personals in den Park, sagt die Krankenschwester. Aber es dauert nicht mehr lange. Sie müssen sich noch etwas gedulden. Sie können noch einmal den Doktor fragen, wenn Sie möchten.
Ich möchte weg, sagt die Frau. Sie zuckt beim Sprechen. Ich möchte weg. Ich möchte hier nicht sein. Ihr Körper zuckt, ihre Arme, die am Körper herunterhängen, die Hände, die Finger. Sie weint. Tränen laufen ihre
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