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Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Titel: Goldener Reiter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Weins
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gucke den Kaktus an. Ich habe Tränen in den Augen. Ich will es nicht. Ich kann nichts dagegen machen. Sie sind einfach da, diese Tränen. Wie bei einem Baby. Sie hat mit sich selbst gesprochen, sage ich. Und sie hat nicht mehr geschlafen. Sie hat nur noch ihren Morgenmantel angehabt. Und sie hat Streit mit den Nachbarn angefangen und herumgebrüllt und Sachen gemacht, die sie sonst nie gemacht hat.
    Okay, sagt die Ärztin. Okay, Jonas.
    Die Tränen laufen mir das Gesicht herunter. Ich kann nichts dagegen machen, ich will sie nicht, diese Tränen. Ich kann nicht schlucken. Ich kann nicht atmen. Da ist etwas mit meiner Brust.
    Frau Fink, hören Sie Stimmen, die mit Ihnen sprechen, die Ihnen Befehle geben oder dergleichen?, fragt die Ärztin.
    Meine Mutter antwortet nicht, sondern schaut mich an, wie ich sitze auf einem Stuhl in einem grünen Zimmer. Sie schaut ihr weinendes Kind an.
    Sie hören Stimmen?, sagt die Ärztin.
    Ja, sagt meine Mutter. Sie hat den Kopf gesenkt, als sie es sagt.
    Ich sehe meine Mutter an, die sich an ihren Kniescheiben festhält. Sie hat mit sich selbst gesprochen. Sie hat Stimmen gehört.
    Was sagen Ihnen die Stimmen?, fragt die Ärztin.
    Meine Mutter weint. Sie kauert auf der Liege und weint. Sie sieht nicht aus wie eine Mutter oder wie ein Mensch. Sie sieht aus wie ein Tier, ein weinendes Muttertier. Sie schaut erst die Ärztin und dann mich an. Sie schaut auf den Boden und weint.
    Okay, sagt die Ärztin. Okay.
    Deine Mutter hat eine Krankheit, Jonas. Eine seelische Krankheit. Sie bekommt Medikamente und bleibt so lange hier, bis es ihr besser geht. Dann kommt sie wieder nach Hause und ist so, wie du sie von vorher kennst, bevor sie krank wurde.
    Sie lächelt mich an, aber ich kann nicht zurücklächeln. Das Lächeln klemmt in mir.
    Deine Mutter bleibt ein paar Wochen hier bei uns im Krankenhaus, sagt sie.
    Ich schaue meine Mutter an. Meine Mutter hat eine Krankheit.
    Möchtest du noch etwas wissen?, fragt die Ärztin.
    Was sind das für Stimmen?, sage ich.
    Manchmal hören Menschen Stimmen, die andere Menschen nicht hören können. Die Stimmen sind nur für sie da, in ihrem Kopf. Die Stimmen geben ihnen Befehle oder kommentieren das, was die Person tut. Hier im Krankenhaus geben wir diesen Menschen Medikamente, und nach einer Weile hören sie keine Stimmen mehr.
    Ich muss mich um meinen Sohn kümmern, sagt meine Mutter.
    Das können Sie nicht, Frau Fink, sagt die Ärztin. Das müssen Sie akzeptieren. Zuerst einmal müssen Sie sich jetzt um sich kümmern und zusehen, dass Sie wieder gesund werden. Um Ihren Sohn werden sich andere kümmern.
    Meine Mutter und ich schauen uns in die Augen. Meine Mutter hat rote Augen. Es tut weh, in diese Augen zu sehen. Meine Mutter sitzt auf einer Liege und weint. Sie ist meine Ochsenzoll-Mutter. Und ich bin ihr Ochsenzoll-Sohn. Die Ärztin schreibt etwas in ihren Block.
     
    47
    Wir fahren in einem Fahrstuhl, die Ärztin, meine Mutter und ich. Der Fahrstuhl hat einen Spiegel an der Rückwand. Man muss sich anschauen, ob man will oder nicht. Ich mag meine Mutter nicht anschauen. Ich mag die Ärztin nicht anschauen. Ich schaue mir in die Augen, blaue Augen. Ich schaue so lange, bis Tränen kommen. Man kann sich an seinen Augen festhalten. Ich schaue so lange, bis der Fahrstuhl im vierten Stockwerk hält.
    Psychiatrie, geschlossene Station 2 steht auf einer Tür aus geriffeltem Glas. Das Licht hinter der Tür ist gelb. Die Ärztin drückt auf eine Klingel. Es schrillt hinter gelbem Glas. Jemand geht an der Tür vorbei. Man sieht, dass jemand vorbeigeht, aber man kann die Umrisse nicht scharf erkennen. Das kommt von dem geriffelten Glas. Es dauert, bis jemand an die Tür kommt. Der Jemand hat weiße Kleidung an, das kann man durch das Glas erkennen. Von der anderen Seite wird ein Schlüssel ins Schloss gesteckt. Die Tür ist zweimal abgeschlossen. Meine Mutter drückt meine Hand.
    Eine Krankenschwester macht die Tür auf.
    Das ist Frau Fink, sagt die Ärztin.
    Guten Tag, lächelt die Krankenschwester.
    Und das ist Jonas.
    Hallo, lächelt sie.
    Sie schließt lächelnd die Tür hinter uns zu. Wie in einem Gefängnis. Wie in einer Irrenanstalt. Wir sind eingesperrt, meine Mutter und ich. Ochsenzoll. Hinter geriffeltem Glas. Ein paar Irre stehen auf dem Flur und gucken. Es ist unangenehm, von Irren angeguckt zu werden. Die Irren haben normale Kleidung an. Sie tragen Pantoffeln. Ich weiß nicht, ob ich zurückgucken darf. Ich schaue lieber die Bilder an den Wänden

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