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Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Goldener Reiter: Roman (German Edition)

Titel: Goldener Reiter: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Weins
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ist die Autobahn wieder da, aber die Amsel auch. Sie singt für mich. Vielleicht weiß die Amsel, dass ich auf dem Bett sitze und Ohren bin. Amsel-Ohren. In meinem Kirschbaum sitzt die Amsel. Ich kann sie sehen, wenn ich aus dem Fenster schaue. Ich schaue aus dem Fenster und sehe den Kirschbaum an. Dunkelgrün sind die Blätter. Und ganz oben auf einem Ast sitzt meine Amsel und singt.
    Im Haus ist es still. Ich kann im Kopf im Haus herumgehen und mir alles angucken. Es ist jetzt mein Haus. Niemand kann es mir wegnehmen. Ich gehe in jedes Zimmer und gucke mir alle Gegenstände an. Ich gehe die Treppe hinunter. Es ist alles da, in meinem Haus in meinem Kopf. Es ist alles an seinem Platz. Ich kann durch jedes Zimmer gehen und mir alles angucken. Nur durch den Keller gehe ich nicht. Der Keller ist zu dunkel. In den Keller gehe ich nur, wenn meine Mutter zu Hause ist. Dann lasse ich die Tür offen und pfeife vor mich hin. Einerseits pfeife ich und andererseits lausche ich, was oben passiert und was um mich herum passiert. Ich beeile mich, wenn ich in den Keller gehe.
    Ich gehe durch das Haus in meinem Kopf, während es draußen dunkel wird. Meine Amsel singt. Ich würde sie gerne verstehen. Ich würde gerne verstehen, was sie singt. Aber es geht nicht. Man kann eine Amsel nicht verstehen. Immer wenn man denkt, man hat herausgefunden, was die Amsel singt, dann singt sie etwas anderes. Das gefällt mir an der Amsel. Sie sitzt da auf ihrem Ast und der Himmel wird blauer. Die Amsel wird schwärzer. Und das Laub vom Kirschbaum auch. Ich sitze auf dem Bett in meinem Zimmer.
    Ich sehe die Zwiebel an. Ich bin hinunter in die Küche gegangen. Ich habe eine Zwiebel aus dem Netz unter der Spüle genommen. Ich habe die Zwiebel vor mir auf den Tisch gelegt. Auf ein Brett habe ich sie gelegt.
    Die Zwiebel riecht nicht. Das heißt, sie riecht so, wie es unter der Spüle riecht. Aber sie riecht nicht nach Zwiebel. Ich schneide die Zwiebel in der Mitte durch. Grün ist die Zwiebel. Jetzt riecht sie, wie sie riechen soll.
    Sie riecht so, dass die Bilder kommen. Vor meine Augen kommen die Bilder. Ich halte die Zwiebel unter meine Nase. Sie tut gut, diese Zwiebel. Ich reibe damit über mein Gesicht. Es fühlt sich feucht an. Ich reibe den Geruch auf meine Haut. Ich schneide zwei Ringe von der Zwiebel. Ich lege sie auf meine Augen. Ich presse sie auf meine Augen. Augenringe. Zwiebelringe.
     
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    Ich bin Augen. Ich stehe vor dem Spiegel, der im Flur hängt. Es ist ein Ganzkörperspiegel. Man kann sich von Kopf bis Fuß angucken. Aber ich stehe zu dicht vor dem Spiegel. Ich kann nur mein Gesicht sehen. Ich gucke mich im Spiegel an. Es ist komisch. Je länger ich vor dem Spiegel stehe, desto mehr verschwimmt das Gesicht. Nur die Augen bleiben. Sie werden größer. Sie wachsen. Es ist, als wären meine Augen Türen. Man kann durch sie hindurchgehen. Blaue Türen. Ich trete ein durch diese Türen. Dahinter ist ein Raum mit einem schwarzen Spiegel. Ich trete vor den Spiegel, ich blicke hinein. Aber ich erkenne nichts. Es ist ein blinder Spiegel. Ich schließe meine Augen. Ich blinzele. Meine Augen sind wieder meine Augen. Ich bin nicht mehr im Raum hinter den Türen. Ich stehe vor den Türen, ich stehe vor dem Spiegel. Ich pule mit einem Streichholz in meinem Auge. Ich weiß nicht, wo das Streichholz auf einmal her kommt. Ich sehe mir im Spiegel zu, wie ich in meinem blauen Auge pule. Das Auge ist morsch. Das Blau rieselt aus meinem Auge. Es rieselt meine Wange herab. Es hinterlässt das Schwarz in meinem Auge. Ich pule das ganze Blau heraus. Ich starre in ein schwarzes Auge. Das Auge ist hohl. Es ist ein großes schwarzes Auge. Es ist nichts darin als dieses Schwarz. Es ist ein weiter, schwarzer Raum. Es zieht mich an, dieses Schwarz. Es zieht mich in den Spiegel.
    Ich liege auf dem Bett.
    Es ist dunkel geworden. Ich bin allein im Haus. Ich weiß, dass ich allein bin. Ich kann es fühlen. Das Haus um mich herum fühlt sich allein an. Es hört sich allein an. Von unten kommt das Summen der Wärmepumpe. Ich höre die Wärmepumpe summen. Die Wärmepumpe summt im Keller. Das ist nichts Besonderes. Ich bin es gewohnt, die Wärmepumpe summen zu hören. Aber ich höre ein Klacken. Ab und zu klackt es von unten. Das Klacken kenne ich nicht. Es ist ein völlig fremdes Klacken. Das Klacken ist ein Fremder in diesem Haus. Es macht, dass ich auch ein Fremder in diesem Haus bin.
    Ich schleiche die Treppe hinunter. Ich muss wissen, was das für ein Klacken

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