Goldener Reiter: Roman (German Edition)
weg. Sie guckt weiter zu, an den Türrahmen gelehnt. Ich quetsche Diebstahl im Internat in die Tasche. Es ist mein Lieblingsbuch, ich habe es dreimal gelesen.
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Ich schließe mein Fahrrad an. Ich schließe den Briefkasten auf. Das gehört zu meinen Pflichten. Wenn man ein eigenes Haus hat, muss man den Briefkasten aufschließen. Da kann ich mich gleich dran gewöhnen. Der Briefkasten ist voller Briefe, die ich später lesen muss. Ich schließe die Haustür auf. Mein Geruch sagt Hallo. Es riecht nach Zigaretten, aber es riecht auch nach zu Hause. Es ist der Geruch von zu Hause, mein Geruch. Blooms Haus hat auch einen eigenen Geruch. Man riecht ihn, wenn man zum ersten Mal hineingeht. Man kann nicht sagen, woraus so ein Geruch besteht. Oder wodurch sich der in einem Zuhause von dem in einem anderen Zuhause unterscheidet. Dafür gibt es keine Worte. Dafür gibt es Nasen. Wenn man eine Weile in einem Haus wohnt, kann man den Geruch nicht mehr riechen. Und wenn man lange genug weg war, riecht man ihn wieder. Hallo, sagt meine Nase. Hallo, altes Haus.
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Ich trinke einen Schluck Malzbier. Manfred Kaltz führt den Ball auf der rechten Seite. Er ist der offensivste rechte Verteidiger der Bundesliga. Ich bin auch rechter Verteidiger. Er steckt sein Trikot nie in die Hose, genau wie ich, und er hat krumme Beine wie bei einem Igel. Wahrscheinlich kann er deshalb so krumme Flanken schlagen, Bananenflanken. Das ist die Spezialität von Manfred Kaltz. Er läuft mit dem Ball an der rechten Seitenlinie entlang. Er schlägt eine Bananenflanke in den Strafraum. Dort lauert Horst Hrubesch. Das ist das Kopfball-Ungeheuer. Horst Hrubesch ist groß und blond. Er hat ein Gesicht wie der Nussknacker, den meine Mutter im Winter auf das Fensterbrett stellt. Das ist immer so: Manfred Kaltz flankt eine Bananenflanke und in der Mitte wartet Horst Hrubesch. Er köpft ins Tor. Der Ball landet in der linken oberen Ecke. Der HSV führt zwei zu eins gegen Eintracht Frankfurt. Ich bin Manfred-Kaltz-und-Horst-Hrubesch-Fan. Ich bin HSV-Fan. Ich gucke immer Sportschau am Samstag. Ich sitze vor dem Fernseher. Das heißt, eigentlich liege ich auf dem Sofa. Ich habe ein eigenes Sofa zum Liegen. Meine Mutter hat auch ein eigenes Sofa. Auf dem liegt sie, wenn wir fernsehen. Die Sportschau läuft. Ich trinke Malzbier. Sportschau gucken und Malzbier trinken. Das ist fast wie richtiges Bier trinken. Ich habe ein Unterhemd angezogen. Das Sofa von meiner Mutter ist leer. Das ist fast wie erwachsen sein. Malzbier, Sportschau und Unterhemd tragen.
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Es klingelt. Ich habe keine Lust, die Tür aufzumachen. Meine Mutter ist unten. Im Garten ist sie, glaube ich. Ich liege auf dem Teppich und lese. Ich lese in einem Was-ist-was -Buch, Tiere der Tiefsee . Von Kämpfen, die Pottwale mit Riesenkraken austragen, unendlich tief im Meer, wo es immer dunkel ist. Auf der Seite ist ein Boot abgebildet, damit man weiß, wie winzig ein Boot und wie groß Pottwale und Riesenkraken im Vergleich sind. Es klingelt noch einmal.
Ich mache die Tür auf. Vor der Tür steht Frau Brand. Frau Brand ist meine Klassenlehrerin. Hallo Jonas, sagt sie. Ist deine Mutter zu Hause?
Nein, sage ich. Ich gucke Frau Brand an. Die ist nicht da, sage ich.
Schade, sagt Frau Brand. Sagst du ihr, dass ich da gewesen bin?
Klar, sage ich.
Meine Mutter liegt in einem Liegestuhl. Ich schaue meine Mutter an. Sie hat die Augen geschlossen und hält das Gesicht in die Sonne. Dabei scheint die Sonne gar nicht. Der Himmel ist bewölkt. Hellgraue und dunkelgraue Wolken sind am Himmel. Sie sonnt sich. Die Autobahn ist laut, weil es Nachmittag ist.
Ich gehe die Treppe hoch. Ich tue so, als würde ich in mein Zimmer gehen. Ich tue so, als würde ich meine Tür zumachen. Meine Mutter sonnt sich, obwohl die Sonne nicht scheint. Sie liegt in einem Liegestuhl im Autobahnlärm. Meine Klassenlehrerin will mit meiner Mutter sprechen, aber meine Mutter ist nicht da.
Ich mache die Augen zu. Ich würde gerne weggehen, irgendwohin. Aber ich kann nicht. Ich bin das Kind meiner Mutter. Man kann sich seine Mutter nicht aussuchen. Ich möchte trotzdem nichts damit zu tun haben, mit Liegestuhlgeschichten. Guten Tag, Frau Brand. Ich möchte nirgendwo sein. Nein, sie ist nicht da. Meine Mutter lacht. Ich habe die Augen zu. Ich habe die Hände auf den Ohren. Ich werde dieses Lachen nicht los. Es ist in mir drin, dieses Lachen. Es kommt durch die Hände hinein. Ich sehe das Gesicht meiner Mutter, wie sie lacht. Ich
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