Goldener Reiter: Roman (German Edition)
sehe das Gesicht von Frau Brand. Ich bin in meinem Zimmer. Die Tür ist geschlossen. Ich höre nichts. Das kommt von den Händen auf meinen Ohren. Ich schaue aus dem Fenster und sehe die Lärmschutzmauer an. Am Rand ist sie dunkel geworden. Das Grau ist dunkel geworden. Das dunkle Grau läuft am hellen Grau hinab. Das kommt vom Regen. Es hat angefangen zu regnen. Es regnet.
72
Meine Mutter brüllt. Es ist Nacht und sie brüllt im Wohnzimmer. Ich bin aufgewacht. Es ist dunkel in meinem Zimmer. Ich verstehe es nicht. Ich würde gerne schlafen. Wie ein normales Kind. Warum kann meine Mutter nicht wie eine normale Mutter schlafen? Was habe ich getan? Sie brüllt. Ich will nicht, dass sie brüllt. Meine Mutter brüllt: Aufhören! Stellt die Maschine ab! Aufhören!, brüllt sie. Aufhören, aufhören, aufhören!
Ich will nicht. Ich will es nicht. Ich will es nicht hören. Mein liebes Kissen. Mein liebes, liebes, liebes Kissen. Mein liebes Kissen. Ich habe dich so lieb.
73
Mama, sage ich. Kann ich etwas von McDonald’s haben? Ich liege in meinem Bett. Es ist bloß eine Erinnerung.
Nein, sagt meine Mutter. Da waren wir gestern. Nein. Wirklich. Joni.
Bitte, sage ich. Bitte, Mama. Bitte, bitte, bitte.
Meine Mutter nimmt ihr Buch herunter. Nein. Ich finde das nicht gut. Joni. Ich will lesen.
Mama, sage ich. Bitte. Ich setze mich zu ihr aufs Sofa. Ich nehme ihr das Buch weg. Ich ziehe ihr am Ohrläppchen. Ich spiele mit ihrer Unterlippe.
Ich lasse dich so lange nicht in Ruhe, bis wir zu McDonald’s fahren, sage ich. Mama, bitte. Wir können ja noch an der Elbe spazieren gehen.
Joni, sagt meine Mutter. Lass mich in Ruhe. Ich habe Nein gesagt.
Ich sitze neben meiner Mutter im Auto. Die Stadt fährt an mir vorbei. Wir fahren durch eine Straße, die Max-Brauer-Allee heißt. Immer wenn wir durch diese Straße fahren, muss ich an Max Gregor denken. Max Gregor ist ein Mann aus dem Fernsehen. Im Fernsehen steht Max Gregor in einer karierten Jacke vor einem Orchester, das so heißt wie er. Genau wie bei der Straße und Max Brauer. Ich weiß nicht, wer Max Brauer ist. Ich weiß nicht, warum ich an Max Gregor denken muss.
Wir fahren am Bahnhof vorbei. Wir fahren an die Elbe. Auf dem Rückweg essen wir bei McDonald’s. McDonald’s ist am Bahnhof. Das machen wir immer so. Erst spazieren wir an der Elbe und danach gehen wir zu McDonald’s. Das ist ein Ritual. Ich esse drei Cheeseburger bei McDonald’s. Der dritte Cheeseburger passt kaum noch in mich hinein. Und meine Mutter trinkt einen Vanilleshake.
Sie parkt das Auto unten am Anleger.
Ich klettere auf den Steinen herum. Links von mir ist das Wasser, rechts ist der Sandstrand. Wenn man weit genug weg guckt, ist die Elbe blau, aber in Wirklichkeit ist sie braun. Rechts von mir geht meine Mutter. Gegenüber stehen Kräne am Ufer. Sie sehen aus wie große Vögel aus der Urzeit. Ein Containerschiff kommt uns entgegen, es schiebt sich langsam den Fluss hinauf. Ich hatte einmal ein rotes Containerschiff von Lego. Meine Mutter gibt mir die Hand, damit ich nicht von den Steinen falle. Ich balanciere auf den Steinen, es ist bloß eine Erinnerung. Ich versuche schneller auf den Steinen zu sein als meine Mutter auf dem Weg.
74
Ich sitze auf einem Holzstuhl. Der Holzstuhl steht auf einer Dachterrasse. Ich bin auf dem Stuhl festgebunden. Es ist die Dachterrasse eines Hochhauses. Der Boden, auf dem der Stuhl steht, ist aus Teerpappe. Ich kann nicht über den Rand gucken. Ich kann nur den Himmel sehen. Es ist Nacht. Der Himmel leuchtet. Ich sehe keine Sterne, der Himmel selber leuchtet. Das Blau des Himmels strahlt um mich herum, als würde es brennen. Schwarze Formen beginnen sich im Himmel zu bewegen. Sie tanzen über mir im Himmel. Schwarze Formen mit Rändern aus Licht. Die Formen tanzen schneller, sie kommen näher, senken sich aus dem Himmel nieder auf mich auf meinem Holzstuhl. Sie tanzen dichter um meinen Kopf. Sie werden noch schwärzer und ihre Ränder gleißend. Die Ränder der Formen gleißen. Sie brennen in meinen Augen, so hell ist das Licht. Immer dichter vor meinen Augen, um meinen Kopf herum tanzen sie.
Jemand steckt mir von hinten eine Erdbeere in den Mund. Ich kann den Kopf nicht wenden. Ich kann nicht erkennen, wer es ist. Ich kann die Hand nicht erkennen. Ich kaue die Erdbeere. Es ist eine wild gewachsene Erdbeere. Mit viel Geschmack. Mein Mund zieht sich zusammen. Es ist eine Walderdbeere. So eine habe ich schon einmal gegessen. Die Hand hält mir
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