Goldener Reiter: Roman (German Edition)
rechts zur Seite weg. Und in der Mitte waren diese kleinen braunen Schneidezähne. Viel zu klein. Als könnte man sie mit zwei Fingern herausknipsen. Deshalb mag ich nicht in den Spiegel gucken. Ich gucke auf die Haustür. Und auf den braunen Vorhang davor. Ich mag meine Zähne nicht angucken. Mama, sage ich.
Ja, sagt meine Mutter. In meinem Zimmer im Schrank. In der gleichen Schublade, wo du das Geld gefunden hast. Da müsste mein Scheckheft liegen.
Aha, sage ich. Da müsste ihr Scheckheft liegen. Und dann?, frage ich.
Das bringst du mir mit. Scheckheft, denke ich. Mitbringen. Und dann?
Ich stelle einen Scheck aus und du bringst ihn zur Bank.
Ich denke an die Bank und an den grünen Teppichboden. Ich denke an den Mann hinter dem Schalter und wie ich mit meiner Mutter die Bank betrete. Ich denke an das Licht in der Bank. Licht, bei dem man nicht weiß, wo es herkommt. Licht, das überall ist. Den Scheck in die Bank bringen, in die Bank, wie soll denn das gehen?
Mama?
Meine Mutter antwortet nicht. Meine Mutter weint. Es tut mir so leid, sagt sie. Ihre Stimme ist noch kleiner geworden. Sie schrumpft in den Hörer zurück, diese Stimme.
Ja, sage ich. Was soll das?, denke ich.
Es tut mir leid.
Meine Mutter weint. Das kann ich durch das Telefon hören.
Mama, sage ich. Sie soll nicht weinen.
Joni, sagt meine Mutter. Ich habe dich ganz, ganz lieb.
Ja, sage ich.
Ganz, ganz lieb habe ich dich. Ich möchte, dass du das weißt.
Ja, sage ich. Mama. Wie sieht das denn aus, dieses Scheckheft?
86
Ich muss das Schaf finden. Ich brauche das Schaf. Ich kann nicht allein im Bett liegen. Das Schaf muss bei mir sein. Es sind Schatten im Zimmer. Wenn man hinguckt, ist alles still. Aber wenn man den Kopf wendet, bewegen sie sich. Ich muss so tun, als wäre es normal. Ich muss so tun, als hätte ich keine Angst. Ich darf keine Angst zeigen. Ich brauche das Schaf. Das Schaf muss bei mir sein. Aus den Augenwinkeln beobachte ich die Schatten. Ich schaue aus dem Fenster. Ich kann einen Stern sehen. Jetzt ist der Stern verschwunden. Die Wolken sind zu schnell. Sie rasen über den Himmel. Sie nehmen meinem Stern das Licht weg. Die Wolken rasen über den Himmel, einmal um die Erde. Wie die Zeiger bei einer Uhr, der Sekundenzeiger. Ein Sekundenzeiger, der viel zu schnell die Zeit wegtickt. Ich muss die Schatten im Auge behalten. Sonst kommen sie zu nahe an mein Bett. Sie kriechen an mein Bett heran.
Im Flur sind die meisten Schatten. Der Flur ist eine schwarze Wand aus Schatten. Das ist das Problem. Um an das Schaf zu kommen, muss ich in den Flur. Ich muss in das Zimmer meiner Mutter, weil das Schaf im Bettkasten liegt. Das war ein Fehler, das Schaf nicht mehr in meinem Zimmer haben zu wollen. Ich muss einen günstigen Moment abpassen. Ich kann meinen Stern wieder sehen. Hallo, mein Stern. Es ist gut, einen Stern im Himmel zu haben, der auf einen herunterguckt. Es sind bloß Schatten. Das muss ich mir sagen. Es sind doch bloß Schatten. Es ist doch mein Haus. Am Tag habe ich doch auch keine Angst.
Ich gehe auf das Schwarz zu. Ich schließe die Augen. Ich bin selber ein Schatten. Ich halte die Hände nach vorne. Es ist kein Problem. Ich kann ohne zu gucken durch mein Zimmer gehen. Ich gehe durch Schatten hindurch. Meine Finger berühren die Tür. Ich öffne die Tür. Ich stehe im Schwarz. Ich habe die Augen geschlossen. Ich stehe im Flur. Vor mir ist die Treppe. Rechts ist das Badezimmer. Links ist das Schlafzimmer meiner Mutter. Und um mich herum ist Schatten. Das Schwarz schmiegt sich an mich. Es will in mich hinein. Deshalb habe ich die Augen und den Mund geschlossen. Ich öffne die Augen. Im Schlafzimmer meiner Mutter ist oranges Licht von der Autobahn. Die Schatten von den Kirschbaumästen tanzen über die Wände. Die anderen Schatten, die schwarzen Schatten haben sich nach unten zurückgezogen. Sie lauern am Fuß der Treppe. Aber da gehe ich nicht hinunter. Ich will das Schaf holen. Gleich ist es gut.
Ich habe den Bettkasten geöffnet. Ich habe im Bettkasten herumgetastet. Das Schaf ist nicht da. Ich habe das Licht nicht angemacht. Meine Hände sind meine Augen. Sie würden das Schaf sehen, wenn es da wäre. Wo ist das Schaf. Wer hat das Schaf genommen. Was hat meine Mutter mit dem Schaf gemacht. Mein Schaf hatte blaue Augen. Es war aus weißer Wolle gemacht. Meine Mutter hat das Schaf gestrickt. Der Mund von meinem Schaf war ein roter Faden. Als hätte das Schaf Lippenstift aufgelegt. Es ist nicht da. Ich kann
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