Goldener Reiter: Roman (German Edition)
unmöglich ohne mein Schaf zurück in mein Bett gehen. Die Schatten warten. Ich wühle noch einmal im Bettkasten herum. Ich wühle im Schwarz herum. Es muss da sein. Ich weiß, dass es da ist.
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Ich wühle mich aus dem Schwarz. Ich halte die Luft an. Das Haus hält die Luft an. Das Telefon klingelt. Es hört nicht auf zu klingeln. Es tut weh, so laut klingelt es. Es ist so, als würde alles andere umso leiser, je lauter das Telefon klingelt. Ich liege in meinem Bett. Ich bewege mich nicht. Ich höre auf zu atmen. Es ist zwanzig nach zwei. Das zeigt mir die Uhr auf dem Nachtschrank. Wer ruft um so eine Uhrzeit an?
Mein Zimmer ist zu schwarz. Noch schwärzer ist es im Flur. Ich möchte da nicht hineingehen, in dieses Schwarz. Ich stelle mich tot. Das machen bestimmte Tiere, wenn sie von größeren Tieren nicht gefressen werden wollen. Das habe ich im Fernsehen gesehen. Ich weiß nicht, was für Tiere. Einfach steif daliegen. Wie ein Igel zum Beispiel. Dann geht das größere Tier irgendwann weg, weil es das Interesse verliert. Vielleicht ruft meine Mutter an. Oder es ruft ein Einbrecher an, der prüfen will, ob jemand zu Hause ist. Das machen Einbrecher manchmal. Wenn ich nicht ans Telefon gehe, denkt der Einbrecher, dass niemand zu Hause ist. Dann bricht er ein. Und wenn ich rangehe, dann weiß der Einbrecher zwar, dass jemand zu Hause ist, aber er hört an meiner Stimme, dass ich ein Kind bin. Ich könnte versuchen, meine Stimme zu verstellen. Hallo? Ich könnte meine Stimme ganz tief machen. Eigentlich muss ich zum Telefon gehen, damit ich die Polizei rufen kann, wenn ich von unten etwas höre. Das ist meine einzige Chance. Und ich brauche eine Waffe.
Das Telefon hat aufgehört zu klingeln.
Ich bin die Treppe hinuntergegangen. Ich stehe vor der Haustür mit der Hand auf der Klinke. Ich prüfe die Klinke. Es ist abgeschlossen. Ich muss das nachprüfen, damit der Einbrecher kein leichtes Spiel hat. Ich schaue in der Küche nach, ob der Rollladen heruntergelassen ist. Der Rollladen ist heruntergelassen. Ich mache das Licht im Wohnzimmer an, damit der Einbrecher denkt, dass jemand wach ist. Ich setze mich auf das Sofa. Meine Füße sind kalt.
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Ich klettere die Böschung hoch. Meine Handflächen werden schmutzig, weil ich mich abstütze. Die Erde ist schwarz und feucht. Wenn meine Hose schmutzig wird, muss ich Wäsche waschen. Komm, sagt Dirk, der schon oben ist. Er reicht mir die Hand. Er sitzt auf einer Wurzel direkt am Bahndamm. Er zieht mich zu sich hinauf. Meine Turnschuhe sind dreckig. Die Pflanzen am Bahndamm sind nass. Von der Wurzel aus kann man die Gleise entlanggucken, bis sie eine Kurve machen. Mein Anorak ist nass. Es tropft von den Zweigen, neben denen ich sitze. Dirk atmet heftig, weil er dicker ist als ich.
Er klettert auf die Gleise und legt ein Markstück auf das Metall.
Warte, sage ich. Leg für mich auch eins hin. Ich pule mein Markstück aus der Hosentasche. Ich gebe Dirk die Mark. Ich habe meine Hose schmutzig gemacht. Er legt meine Mark hinter seine. Wir sitzen auf der Wurzel und warten.
Dirk kann nicht wissen, dass heute der Geburtstag meines Vaters gewesen wäre. Er kann nicht wissen, dass ich den ganzen Tag an meinen Vater denke.
Der Zug kommt, sagt Dirk. Man hört ihn in den Gleisen. Die Indianer haben früher das Ohr auf die Schienen gelegt. Ich schaue die Markstücke an. Hintereinander liegen sie auf der Schiene. Heute ist sein Geburtstag. Jedes Jahr sagt meine Mutter: Heute wäre sein Geburtstag gewesen. Die Markstücke fangen an zu tanzen. Ich denke daran, dass Dirk einen Vater hat und dass ich gar nicht weiß, wie es ist, einen Vater zu haben, dass ich nicht weiß, ob ich einen Vater haben wollte.
Der Zug ist da. Es ist laut. Es ist eine braune Wand aus Getöse, die an uns vorbeidonnert. Das Wasser von den Pflanzen fällt auf uns, weil die Büsche sich biegen. Es ist ein Güterzug. Es dauert ewig. Es ist wie in einem Traum, wo man plötzlich Angst hat, dass man irgendwo hinuntergezogen wird, obwohl man eigentlich ganz sicher steht.
Sechzehn, sagt Dirk neben meinem Ohr.
Was?, frage ich.
Waggons, sagt er.
Der Zug ist vorbei und ich sehe ihm hinterher, sehe ihn klein werden, ich sehe ein rotes Signal neben den Gleisen, das mir vorher nicht aufgefallen war. Dirk klettert auf die Schienen und hält sein plattes Markstück hoch. Sein Exmarkstück, wie ein alter Kaugummi. Ich höre dem Zug hinterher. Ich schaue auf die Schienen, aber ich kann mein Markstück nicht
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