Goldener Sonntag
Susis Fahrstuhlfahrt aus dem Oberen Haus abwärts war der Aufstieg ins Mittlere Haus eine recht ruhige und zivilisierte Angelegenheit. Die Reise ging zwar viel langsamer vonstatten und dauerte mehrere Stunden, aber es gab rosinengefüllte Brötchen. Und obwohl das Musikpodium zu Anfang leer gewesen war, hatten inzwischen verschiedene Soldaten Instrumente hervorgeholt, und schon bald spielte ein Kratzquartett jene typisch beruhigende und nicht sonderlich gute Fahrstuhlmusik.
Wie es ihre Art war, verweilte Susi nicht lang bei den schlechten Neuigkeiten oder grübelte darüber nach, was womöglich vor ihnen lag. Stattdessen ließ sie ihre Pfeiferkinder die transportierten Güter inspizieren, um zu sehen, ob es darunter vielleicht etwas gab, was sie sich »borgen« wollten, wie sie sich ausdrückte. Es fand sich jedoch nichts, was von großem Interesse für Susi gewesen wäre; trotzdem »beschlagnahmte« sie ein Barbarenschwert für sich und einen messingbeschlagenen Jagdstock für Giac, der, wie der Zaungast meinte, ein ausgezeichneter Ersatz für seinen Regenschirm war. Er vermutete, es sei sogar noch einfacher, Zauber damit zu wirken, und erwog in seinem neu gewonnenen Selbstvertrauen, diese Theorie einem Praxistest zu unterziehen, ehe Teil Sechs des Vermächtnisses ihn davon abbrachte.
Auch die Ankunft verlief stoßfrei; nur ein kaum merklicher Ruck und ein sanfter Glockenschlag verkündeten, dass sie ihren Bestimmungsort erreicht hatten. Die Tür glitt auf, und sofort schritt Marschall Abenddämmerung hinaus, dicht gefolgt von Susi, dem Raben, Giac und den Pfeiferkindern.
Susi erkannte den Ort wieder, an dem der Aufzug erschienen war: Es war der Hof vor dem zentralen Bergfried von Burg Einband, der Festung auf dem Hohen Rücken des Mittleren Hauses. Sie schirmte ihre Augen mit der Hand ab, als sie sich umsah. Es war sehr hell und heiß auf dem Hohen Rücken, eine Folge der zwei unterschiedlich großen Sonnen am Himmel.
Als Susi zuletzt hier durchgekommen war, war der Hof leer gewesen, aber jetzt stand er voller Wagen der Armee, alle sorgfältig entlang der Mauern aufgereiht. Die merkwürdigen Bäume mit den schuppenartigen Blättern waren verschwunden; nicht einmal ihre Stümpfe waren noch zu sehen. Überall waren Soldaten, die sich energisch über den Hof bewegten, entweder weil sie tatsächlich etwas zu tun hatten oder weil sie den Anschein erwecken wollten. Auch streiften ein paar Buchbinder der Hohen Gilde in ihren Samtgewändern umher, die Papier und Leimtöpfe oder ihre langen, nadelartigen Speere mit sich trugen.
Marschall Abenddämmerung wurde von mehreren Offizieren empfangen. Nachdem er kurz mit ihnen gesprochen hatte, winkte er Susi zu sich.
»Dame Primus wünscht Euch unverzüglich zu sehen, General Türkisblau«, sagte er. »Sie befindet sich auf der Brustwehr und inspiziert das Lager.«
»Schätze, Ihr solltet besser auch mit–«, sagte Susi zu Teil Sechs des Vermächtnisses, doch der war bereits losgeflogen und flatterte zur Spitze des Bergfrieds hoch, die mehr als hundert Meter über ihnen lag. Selbst aus dieser Entfernung konnte Susi die sehr große und eindrucksvolle Gestalt ausmachen, die von dort oben auf sie herabstarrte.
Dame Primus hob den Arm, als der Vogel sich auf ihrer Hand niederließ. Es folgte ein Lichtblitz und ein beunruhigendes Geräusch, ähnlich dem Vibrieren eines riesigen Beckens, das sacht geschlagen wird, und der Rabe war verschwunden.
»Schade«, murmelte Susi. »Das war bis jetzt der beste Teil, wenn man mich fragt. Ich hoffe, er hat ein bisschen Einfluss auf die alte Quengelliese!«
»Wie bitte?«, fragte Marschall Abenddämmerung.
»Nix!«, sagte Susi. »Hab nur laut gedacht. Schätze, wir sollten besser hochgehen. Ich geh mal nicht davon aus, dass Ihr zufällig ein Paar anständige Flügel übrig habt? Oder ein paar Paar? Ich hab leider nur schäbige Schmieraffenfittiche, und denen trau ich nicht.«
»Flügel sind im Moment streng rationiert«, erklärte Abenddämmerung. »Auf direkten Befehl von Dame Primus. Wir werden jedes Paar brauchen, wenn wir das Obere Haus angreifen sollen und danach die Unvergleichlichen Gärten. Die Treppe ist da drüben.«
»Na schön!«, fügte sich Susi. Sie sah zurück zu Athan, zwinkerte ihm zu und berührte ihren Nasenflügel. Das Pfeiferkind grinste, und er, Shan und Bren verschmolzen wieder mit der Menge und steuerten die Quartiermeisterwagen an.
»Dann komm mal mit, Giac!«, sagte Susi. »Wer als Letzter oben ist, ist ein
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