Goldfalke (German Edition)
eine ihrer zerzausten Locken um ihren Zeigefinger, „… die Schriftrolle über die neun Teile der Persönlichkeit. Gebt uns die, und wir erzählen euch alles über die Bedrohung.“
Woher auch immer Nesrin ihre durch nichts gerechtfe rtigte Unbekümmertheit bezog, sie wirkte. Denn obwohl es ringsherum feindselig knurrte, sagte das Männlein: „Kommt mit! Aber haltet eure abscheuliche Höllenkatze zurück!“ Er wandte sich um, wobei zwei seiner Augen auf den kahlen Hinterkopf rutschten und sich auf Nesrin und Baski ausrichteten.
So sehr, wie sich Kiana anfangs vor Baskis Raubkatzengestalt gefürchtet hatte, so eng drückte sie sich jetzt an das Tigerfell, als sie alle sich in Bewegung setzten. Voran das geduckte Männlein, das fast mit der Gebäudewand verschmolz, an der es entlang huschte. Dann die Mädchen und Baski. Und die Nachhut bildeten diejenigen Ifrit und Afrit, die den Verlauf des Handels miterleben wollten. Nach denen, die desinteressiert abzogen, schaute sich Kiana ständig um. Nur für den Fall, dass die überraschend von hinten angriffen. Oder von oben.
Oder von wo auch immer.
Das Männlein schlüpfte durch einen breiten Riss, der im mannshohen, hohlen Sockel einer abgebrochenen Säule klaffte. Nach Nesrin stieg Kiana hinein. Baski musste sich zum Kätzchen zurückverwandeln, um hindurch zu passen. Sofort hieben von hinten Hauer und Klauen nach Baski, was schlagartig endete, als sie sich schnell wieder vergrößerte und eine der Hände abbiss, die sich in ihr Fell krallen wollten. Jaulend verschwand eine grau behaarte Gestalt hinter ihren Kumpanen.
Der hohle Säulensockel bildete eine leere Kammer, die sich der Wüstensand nur zum Teil erobert hatte. Am anderen Ende dieser Kammer waren ein paar große Steinquader aus der Wand herausgebrochen und gaben die Sicht frei auf einen Treppengang, der rechts oben mit Säulenresten zugeschüttet war und nach links in die Tiefe ging. Das Männlein wählte den Weg nach unten.
Je tiefer sie kamen, desto spärlicher wurde der Gesteinsschutt, der den rechten Rand der Stufen teilweise überdeckte. Die Luft wurde angenehm kühl. Kianas Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an das gedämpfte Licht gewöhnt hatten, das von ein paar Mauerrissen gespeist wurde. Am Ende der Treppe angelangt öffnete das Männlein eine löchrige Holztür, deren rostige Angeln wund knirschten.
Der Raum dahinter war dunkel. Sehr dunkel. Nesrin kramte in ihrer Tasche und brachte eine kleine Taschenlampe hervor. Deren Licht reichte nicht annähernd aus, um die Ausmaße des Raumes erahnen zu können. Aber er musste ungeheuer groß sein. Die mehrstöckigen Holzregale schienen ins Endlose zu gehen. Die meisten der Regale waren eingestürzt, einen weiteren Teil hatte der Wüstensand halb zugeschüttet, und überall auf den morschen Brettern, in den steinernen Wandnischen und auch im Sand dazwischen stapelten sich Schriftrollen. Dünne, dicke, lange, eingerissene - unzählige Schriftrollen in allen Größen und in jedem Verwitterungsgrad. Und längliche Tonkrüge, die vermutlich weitere Schriftrollen enthielten. Uraltes Wissen, vergessen im Sand.
Geringschätzig verzog Nesrin den Mund. „Und wo in dem ganzen Krempel ist jetzt der Schrieb über die neun Teile der Persönlichkeit?“
Flink schaufelte der Dreiäugige Sand und ein paar Schriftrollen beiseite und legte ein rundes Stück Mauerwerk frei. Es sah aus wie eine dicke, aber zu kurz geratene Säule und war seitlich überzogen mit vielen kleinen Tonstiften in unterschiedlichen Brauntönen, die ein Rautenmuster bildeten. Das obere Ende dieses Säulenstumpfes ging Kiana bis zum Bauch und war bedeckt von einer schmucklosen Steinplatte, in deren Mitte ein kindskopfgroßes Loch ausgefräst war.
„Was ist das denn? Ein Elefantenklo, oder was?“ Weil Nesrin wild gestikulierte, schoss das Licht ihrer Taschenlampe gespenstisch hin und her. „Wir wollen nur diese Schriftrolle über die Persönlichkeit sehen und nicht eure sanitären Einrichtungen.“
Irgendeiner der Dschinns kicherte heiser , doch der Dreiäugige schien für so etwas wie Humor nichts übrig zu haben und verzog nur zynisch die dünnen Lippen. „Dies hier ist der Einlass der Erleuchtung. Um eine Schrift zu finden, musst du an ihren Inhalt denken und in dieses Loch greifen. Dann kommt die Schrift zu dir.“
„Du willst mich wohl verarschen, Mann!“ Nesrin leuchtete in das Loch und trat sogleich einen Schritt zurück. „Das kannst du vergessen, dass ich da reinlange!
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