Goldfalke (German Edition)
Woher weiß ich, dass da keine giftigen Spinnen, Schlangen oder sonst was drin sind?“
„Ich tue es“, fühlte sich Kiana verpflichtet zu sagen. „Du hast schon genug getan, Nesrin. Mehr als ich je erhoffen konnte.“
„Aber sei bloß vorsichtig, Ki!“ Es war schon merkwürdig zu sehen, dass die Nesrin, die eben noch schlagfertig die bösartigsten Dschinns dazu gebracht hatte, sie zu dieser Bibliothek zu führen, nun mit angstgeweiteten Augen davon zurückschreckte, in eine einfache Durchreiche zu greifen.
Andererseits, je näher Kiana diesem Loch kam, desto finsterer erschien es ihr. Finster und unheimlich. Was sich auch immer dahinter verbarg, man konnte nichts erkennen außer Schwärze. Undurchdringliche Schwärze. Von allen Möglichkeiten, die Kianas Fantasie ihr jetzt aufdrängte, waren Schlangen und Spinnen noch die harmlosesten. An ihren Inhalt denken, hatte das Männlein gesagt.
Mit Gewalt stieß sie ihre Gedanken hin zu den Stehenden Weisen. Was hatten die gleich noch mal über die neun Teile der Persönlichkeit berichtet? Nach einem tiefen Atemzug klemmte sie ihren Teppich unter die rechte Achsel, biss die Zähne zusammen und griff mit der linken Hand in das Loch.
Irgendwo im Bereich der hinteren Regale beweg te sich etwas, raschelte etwas. Dann rumpelte etwas in der Wand - nein, auf der Wand. Was immer das war, es schüttelte Jahrtausende an Staub und Sand ab und enthüllte ein verzweigtes tönernes Rohrsystem, das mehrschichtig die Wände überzog und in den Einlass der Erleuchtung mündete. Plötzlich endete das Rumpeln.
Die Anspannung der Mädchen schien die Dschinns anzustecken, denn sie wirkten nun reglos wie Statuen. Nur die rieselnde Stimme des ewigen Sandes war zu hören, der noch immer von den Tonrohren abfiel. Kiana zuckte zusammen, als sich etwas in ihre Finger schob.
Aller Augen folgten Kianas Hand, die aus dem Loch auftauchte und einen metallischen Zylinder hielt. Aus Bronze wahrscheinlich. Auf einer Seite war er offen. In ihm befand sich eine Schriftrolle.
Nes rin zog die Rolle heraus. „Wow, das ist echter Papyrus!“ Sie setzte sich auf den Mauervorsprung der nächsten Wandnische, rollte vorsichtig das alte Schriftstück auf und begann, es im Licht ihrer Taschenlampe zu studieren.
Unterdessen trat das Männlein an Kiana heran und b eäugte sie mit allen drei Pupillen. „Wer bist du eigentlich?“
„Ich bin Kiana Rashid … äh Smith, äh Rashid-Smith.“
„ Also was jetzt?“
„Meine Mutter hieß Rashid und hat einen Ungläu…. einen Mann mit Namen Smith geheiratet.“ Bevor dieses Gespräch zu viel von ihr enthüllte, brach sie es ab und rief: „Ist das die richtige Rolle, Nesrin?“
„Weiß ich noch nicht. Es ist so ein alter Dialekt. Einen Moment noch!“
„Der Name Rashid sagt mir etwas“, ertönte eine Stimme, die so kalt klang, dass es Kiana fröstelte. Sie gehörte zu einer hyänenartigen Gestalt, die sich nun zwischen den anderen Dschinns hindurch nach vorn drängte. Ihr mit Saphiren besetztes goldenes Gewand, ihr aufrechter Gang und die ausladende Goldkrone standen in einem aberwitzigen Gegensatz zu den gelben Reißzähnen in der Hyänenschnauze und dem mordlüsternen Ausdruck in den Augen. „Mein Herr aus der Trüben Welt hat gerade einen Mustafa Shenwari … sagen wir mal: ausgebildet. Seine Mutter ist eine geborene Rashid.“
Kiana schluckte. „Mustafa ist mein Cousin.“
„ Dieser Versager?“
Betroffen presste Kiana die Lippen zusammen und stellte dann klar: „Mein Cousin ist kein Versager!“
Die hässliche Alte kicherte - eine schrille Melodie grausiger Heimtücke an diesem düsteren Ort.
„ Alle Schützlinge meines Herrn sind Versager.“ Ein boshaftes Grinsen verzerrte das Hyänengesicht. „Gerade jugendliche Schwachköpfe wie dein Cousin ohne Arbeit, ohne Zukunft, ohne Selbstvertrauen lassen sich besonders gut auf den heiligen Krieg meines Herrn einschwören.“ Das Lachen klang fast wie ein Wiehern. „Die Trottel! Wenn man denen was von ihrer Wichtigkeit und von den Jungfrauen im Paradies vorgaukelt, tun sie alles, was den Machtinteressen meines Meisters dient. Die zerreißen sich für ihn im wahrsten Sinne des Wortes.“
„So wie es der Schreckliche Sultan mit den Skorpionkriegern mach t?“, warf Nesrin ein, ohne den Blick von der Schrift zu nehmen.
„Besser“, säuselte die Hyäne mit grausiger Sanf theit. „Viel besser. Dein lieber Cousin ist ein gutes Beispiel, Kiana Rashid-äh-Smith-äh-Rashid-Smith.“
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