Goldfalke (German Edition)
könnte wieder durchsichtig werden, doch sie schob den Gedanken beiseite. Nichts konnte sie davon abhalten, sich den Sand und den Staub und all das, was auch immer in der Ehernen Festung in der Luft gelegen hatte, vom Körper zu spülen. Zudem wirkten die Wände heute beruhigend stabil. Der leichte Schimmer, der immer auf ihnen lag, schien sich verstärkt zu haben. Sogar die Maserung des Marmors zeichnete sich selbstbewusster ab als sonst.
Mit Vergnügen ließ Kiana das Wasser der Dusche über ihren Körper rinnen. Das viele wundervolle Wasser. Für ein paar Tropfen davon hätte sie gestern fast alles getan.
Die Wände blieben dicht , und Avas Salbe ließ in Windeseile die feuerroten Hautstellen auf Gesicht und Armen verblassen. Vorsichtig reinigte Kiana ihre wertvolle Glasphiole von anhaftendem Schmutz und hängte sie sich wieder um den Hals. Mit einem kurzen Stich des Bedauerns dachte sie an das prächtige Rubinmedaillon, das Sahmarans Haar beherbergt hatte und das jetzt irgendwo in der Ehernen Festung herumlag. Aber dieses Opfer war nicht zu vermeiden gewesen.
Aus ihrer Kleidertruhe zog sie eine knielange Tunika aus grasgrüner Seide und eine far blich passende Hose hervor. Ein Rankenmuster aus Goldfäden zierte die Säume. Kiana kam sich vor wie das reichste Mädchen der Welt, obwohl diese Kleidung noch zu den weniger aufwändigen Stücken zählte, die sich in der Truhe verbargen.
Nachdem sie ihr Haar zu einem Zopf geflochten hatte, schaute sie noch einmal in den Spiegel. Diesmal blickte ihr ein Mädchen entgegen, das eher wie das aussah, was sie ihrer Mutter als Tochter vorstellen wollte. Einigermaßen zufrieden verließ sie das Zimmer.
Eigentlich hatte sie den kürzeren Weg zur Frühstücksterrasse über die Hintertreppe nehmen wollen, doch aus einer Laune heraus stieg sie über die Haupttreppe in die Eingangshalle. Nur aus Neugierde. Um zu überprüfen, ob sich im großen Bodenmosaik etwas geändert hatte seit dem letzten Mal.
Von irgendwoher hörte Kiana ihren Namen rufen, und sofort war sie umringt von Palastb ewohnern, die unzählige Fragen auf sie abluden. Aus dem unübersichtlichen Sprachfluss tauchte ein Wort immer wieder auf wie ein Holzstück, das auf dem Wasser treibt: Elina.
„Bedrängt das Mädchen nicht!“, durchschnitt Avas erhobene Sti mme das Geräuschchaos. „Geht alle in den großen Saal! Nach einem ordentlichen Frühstück wird Kiana euch berichten, was sie erlebt hat.“
Hatte Ava überhaupt geschlafen? Man sah ihr nichts an. Weder Müdigkeit noch ... Nicht-Müdigkeit. Sie wandte sich Kiana zu. „Guten Morgen, meine Tochter! Was sagt dir der Palast heute?“
„Guten Morgen, Haushofmeisterin! “ Das Licht, das durch die bemalten Fenster drang, schmückte die Edelsteinplättchen auf dem Boden mit hellen, bunten Farben. „Das Mosaik zeigt lachende Gesichter“, beschrieb Kiana.
„Der Palast freut sich zu Recht.“ Ein Lächeln ließ Avas Augen aufblitzen. „So wie wir alle. Die Klare Welt ist dir zu großem Dank verpflichtet, mein Kind, weil du die einzige Heilerin heimgebracht hast, die unsere Herrscherin retten konnte. Nun komm mit in den großen Saal! Dein Frühstück wartet. Nach den Strapazen gestern musst du hungrig sein wie ein Bergleopard.“ Zügig wie immer schritt sie voran.
Nicht nur Kiana trottete hinter ihr her, sondern auch alle, die sich in der Eingangshalle und auf der Haupttreppe befunden hatten. Die Tür zum großen Saal öffnete sich wie von Geisterhand und gab den Blick frei auf Menschen. Viele Menschen. Und unzählige von Avas Dschinns mit Tabletts und Teekannen. Die meisten der Palastbewohner hatten sich hier versammelt. Und einige der Stehenden Weisen befanden sich auch darunter.
Die Stehenden Weisen - Kiana hatte die ganz vergessen.
Alle brachen ihre Gespräche ab und starrten auf Kiana. Am liebsten wäre sie postwendend umgekehrt, doch sie blieb stehen. Suchend sah sie sich nach ihrer Mutter um, doch sie konnte sie in der Menschenmenge nicht ausmachen. Ebenso wenig Amir. Oder Farid. Dafür entdeckte sie die Herrscherin in der Mitte der hinteren Saalwand auf einem Diwan sitzend, majestätisch, anmutig und wunderschön in ihrem weißen, mit Silberbrokat gesäumten Kleid. Auf einem Sessel neben ihr thronte Fatima und trank Tee. Soraya streckte ihren rechten Arm nach Kiana aus und klopfte mit der linken Hand neben sich auf den Diwan.
Da Kiana zögerte, schob Ava sie vo rwärts. „Geh ruhig, mein Kind!“
„Wo ist meine Mutter?“ Meine Mutter -
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