Goldfalke (German Edition)
stellte.
Amir war siebzehn, also ein Jahr älter als sie und zudem einen Kopf größer. Er wohnte mit seinem Vater Sami Hasan im Haus nebenan. Auch heute trug er wie immer seine geflickte Hose und das fadenscheinige, ehemals wollweiße Hemd. In beides hatten sich etliche Lebensspuren eingefärbt, die auch das Waschen nicht mehr entfernen konnte. Fast schon zu eng spannte sich das Hemd um Amirs breite Schultern. Kiana wusste, dass Sami Hasan schon lange dafür sparte, seinem Sohn neue Kleidung kaufen zu können.
S eit Kiana denken konnte, hatte Amir ihr Streiche gespielt, die sie ihm nur dann heimzahlen konnte, wenn keiner zusah. Einmal hatte sie ihn getreten, weil er sie zuvor mit Müll beworfen hatte. Tante Shabnam hatte jedoch nicht ihn, sondern nur sie beschimpft. Ob Kiana unbedingt als streitsüchtiges Luder gelten wollte, hatte die Tante ihr zugezischt. Kein Mann würde so eine haben wollen. Ob sie ihrem Onkel ihr Leben lang auf der Tasche liegen wollte. Ob sie nicht schon für genug Gerede sorgte.
Und als Amir kurze Zeit später eine Ratte in die Schüssel gesetzt hatte, in der Kiana immer das Brotmehl herrichtete, war es auch Kianas Schuld gewesen, denn sie hätte eben besser auf das Mehl aufpassen sollen.
Amir kannte sie gut genug, um sie trotz der Burka zu erke nnen. „Wenn du so weiter pumpst, verdunstet das Wasser deines ersten Eimers, bis du den letzten gefüllt hast“, spottete er, nachdem er ihr eine Weile zugeschaut hatte. „Lass mich mal machen! Du bist offenbar zu schwach.“ Er griff nach dem Pumphebel.
Das fehlte noch, dass die Gäste zufällig aus dem Fenster s ahen und den Eindruck bekämen, Kiana könnte selbst die einfachste Arbeit nicht ohne fremde Hilfe verrichten! „Nein danke!“, flüsterte sie und packte den Pumphebel mit beiden Händen. Warum musste Amir unbedingt jetzt auftauchen? Schließlich konnte bei den Gästen der Eindruck entstehen, sie würde es darauf anlegen, fremde Männer anzulocken. Sie musste Amir unbedingt schnell loswerden. Allerdings ohne unhöflich zu wirken, denn Yusuf wollte sicher keine zänkische Zicke zur Frau. So zwang sie sich, mit süßer Stimme zu flöten: „Danke, Amir, dein Angebot ist sehr freundlich. Aber ich kann das alleine.“
Er schnaubte ungeduldig. „Ich habe keine Lust, den ganzen Tag hier zu stehen. Geh mir aus dem Weg und lass mich dir helfen!“
Trotz ihres wachsenden Ärgers würde sie sich von Amir nicht davon abbringen lassen, nur Freundlichkeit, Arbeitseifer und Liebreiz zu verkörpern. „Nein danke!“ Schweiß lief ihr zwischen den Schulterblättern hinab.
„Dann bist du nicht nur schwach, sondern auch noch dumm.“ Er griff nach dem Pumphebel und kam ihr dabei unschicklich nahe.
„Nein danke!“ Ihre Stimme klang nun doch etwas gepresst, als sie den Hebel zum Beweis dafür, dass sie keinesfalls zu schwach war für die schwere Arbeit auf den Rustami-Feldern, entschieden mit voller Kraft in die Höhe riss. Ein plötzlicher Widerstand, ein dumpfer Ton und ein lautes Scheppern ließen sie innehalten.
Als sie sich umdrehte, erkannte sie, dass das S cheppern Amirs Eimer von sich gegeben hatte, als er auf dem Boden aufgeschlagen war. Den dumpfen Ton musste Amir ausgestoßen haben, seinem schmerzverzerrten Gesicht nach zu urteilen. Und der Widerstand, den sie verspürt hatte, kam offenbar daher, dass sie das Ende des Pumphebels genau zwischen Amirs Beine gerammt hatte.
A us Amir schoss ein Fluch hervor, der selbst den hartgesottenen Viehhändlern der Grenzgebiete Respekt abgenötigt hätte. Er atmete tief, wenn auch zittrig durch und stützte sich mit beiden Händen auf seinen Oberschenkeln ab.
„Oh nein, Amir, das tut mir Leid!“
„Das wirst du büßen, du blöde Ziege!“ Mit sichtlicher Mühe richtete er sich auf, griff seinen Eimer und bewegte sich zurück zu seinem Haus. Ganz entgegen seiner üblichen Art, Drohungen sofort zu vollstrecken, hatte er wohl beschlossen, seine Rache auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben. Wenn sein Gang weniger hölzern war.
Ein hastiger Blick zum Wohnzimmerfenster ließ keine Zuschauer des peinli chen Vorfalls erkennen. Doch das bedeutete nichts. Eilig füllte Kiana ihre Eimer. Als sie erneut hörte, wie sich jemand näherte, pumpte sie noch schneller, aber es war nicht Amir im Vergeltungseifer, wie ihr erster Gedanke gewesen war, sondern eine alte Frau. Diese setzte sich mit einem Ächzen auf den kleinen Mauervorsprung, der das betonierte Brunnenareal begrenzte. Von hier aus hatte
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