Goldfalke (German Edition)
hast doch gehört, dass Ava mich gebeten hat, mich bei Sahmaran zurückzuha lten.“
„Aber ich dachte, sie hat damit nur dein loses Mundwerk gemeint.“
Nesrins Stirn runzelte sich. „Findest du, da ss ich ein loses Mundwerk habe?“
Kianas Panik wuchs. „Du kannst mich doch jetzt nicht allein lassen!“
„Ich fürchte, das muss ich. Zu deiner eigenen Siche rheit. Sahmaran dürfte nicht unbedingt gut auf meine Familie zu sprechen sein.“
„Warum nicht?“
„Es ist so eine Räuber-Beute-Sache.“
Das klang nicht gut. Gar nicht gut. „ Wieso Räuber und Beute?“
„ Schlangen sind die Hauptnahrungsquelle meines Ziehvaters. Ich bin damit großgezogen worden, könnte man sagen.“
„Du hast Schlangen gegessen?“
„Nicht unbedingt meine Leibspeise, aber: ja. Deshalb sind deine Chancen bei Sahmaran ohne mich besser, schätze ich.“
„ Ohne dich und dein Wissen, wie hier alles läuft in dieser magischen Welt, bin ich verloren!“
„ Jetzt krieg dich wieder ein, Ki! Du musst zu Fuß rein, weil die Höhlenöffnung für den Teppich zu eng ist. Jedenfalls bei deinen Flugkünsten.“
„Na, großartig !“ Kiana stieg von ihrem Teppich. „Ganz großartig!“ Sie ballte die Fäuste und kämpfte das mit einem Mal so dringende Verlangen nieder, auf den Teppich zu hechten und fortzufliegen.
Ganz weit fort.
Täuschte sie sich, oder waren die Schlangen, die auf die Höhle zu krochen, jetzt größer als vor einem Augenblick, als Kiana noch sicher auf dem Teppich saß? Sie machte einen zaghaften Schritt, dann noch einen. Etwas Dünnes, Langes flüchtete vor ihr in das unheilvolle Dämmerlicht des Höhleneingangs.
Dort drin nen war jemand, der sie einen Schritt näher zu ihrer Mutter bringen konnte! Zu ihrer Mutter, die vielleicht noch lebte. Getrieben von dieser Hoffnung, um die man sie sechzehn Jahre lang betrogen hatte, betrat Kiana die Höhle.
Das Felsgewölbe war so hoch, dass eine Frau gerade noch aufrecht stehen konnte, und mündete in eine Art Gang. Es roch nach Erde und nach ... etwas anderem.
Peinlich darauf bedacht, auf nichts zu treten, was sich r ächen konnte, bewegte sich Kiana vorwärts. Nie hätte sie gedacht, dass Schlangen beim Kriechen über ihre Artgenossen ein Geräusch machen konnten. Dieses Reiben von Hornschuppen auf Hornschuppen war ganz leise nur, kaum mehr als der Hauch eines Knisterns. Vielleicht bildete sich Kiana das auch nur ein, doch die Todesfurcht, die es in ihr auslöste, war echt.
Bald hatten sich Kianas Augen an das Dämmerlicht g ewöhnt. So konnte sie das Schlängeln und Kriechen noch besser sehen, das sich vor ihr und neben ihr abspielte. Und, wie sie erkannte, auch über ihr auf den Felsvorsprüngen der Höhlenwände. Schweiß sammelte sich zwischen Kianas Brüsten. Sie war sich sicher, dass die Ottern, Vipern, Nattern - was auch immer das alles war - ihre Angst riechen konnten. Machte das die Tiere angriffslustig? Immer mehr Köpfe hoben sich, als das Mädchen vorbei schlich. Furcht würgte Kiana wie eine Python ihr Opfer.
Das Rätsel über das Verschwinden ihrer Mutter wa rtete da drin!
Vorsichtig glitten ihre Füße über den Boden, ahmten unwil lkürlich das bedächtige Kriechen der Schlangen nach, um Artverwandtschaft zu heucheln. Als ihre Fußspitze trotz aller Vorsicht gegen einen der sich windenden Leiber stieß, richtete dieser sich plötzlich auf und schnappte zischend nach Kianas Bein. Mit einem schnellen Sprung zur Seite konnte sie sich gerade so retten, stolperte über … etwas und stützte sich an der Wand ab. Ihre zitternden Finger berührten Ledriges, Sich-Bewegendes. Ihr Aufschrei fand ein schauriges Echo in dem steinernen Gewölbe. Mit beruhigenden Worten versuchte sie, das kriechende Getier und ihre eigene Angst zu beschwichtigen: „Brave Schlange … gute Schlange … lieb sein … bitte sei lieb!“
Sayed, Ava, Fatima, Soraya , Nesrin - der ganze Palast verließ sich auf sie!
Kianas Füße tasteten weiter, immer der Angst hinterher, bis der Felsengang in eine Höhle mündete. Nein, es war keine Höhle, es war ein Gemach. Durch ein schmales Fenster wagte sich ein dünner Sonnenstrahl in den Raum und hüllte ihn in ein geheimnisvolles Zwielicht, das sich an den kunstvollen Schlangenornamenten der Ebenholz-Kommoden brach. Ein großer Diwan thronte inmitten einer Vielzahl von Sitzpolstern. Und zum Glück nahm die Anzahl der Schlangen merklich ab.
Als Kiana näher trat, erkannte si e jedoch, dass dieses seltsame Dämmerlicht sie
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