Goldfalke (German Edition)
nach einem Bombenanschlag. Die Bienen surrten zwischen dem hindurch, was von den Zelten übrig war, ein grauer Hengst schlug mit allen Hufen nach den summenden Insekten, ein vergleichsweise entspanntes Kamel zog eine zerquetschte Melone aus den Ruinen des Obststands, die gescheckte Ziege mit den acht Hörnern stand auf Kianas Burka und schaute gelassen einem fast durchsichtigen, geisterhaften Wesen zu, das die verwehten Seidenschals einsammelte.
„Setz dich auf deinen Teppich , Töchterchen!“
„Nein, ich … bitte nicht! Nie wieder!“
„ Keine Angst, ich werde dich lenken! Vertrau mir!“, sagte die Alte, die Kiana in diese Alptraumwelt gebracht hatte.
Ve rtrauen?
Doch Fatimas Stimme hatte etwas so Bezwingendes, und die Aussicht, sich dem Zorn der Basarhändler stellen zu müssen, etwas so Beunruhigendes an sich, dass sich Kiana erneut auf den Teppich setzte, der ruhig vor ihr in der Luft lag, als hätte er nicht soeben eine selbstmörderische Spur der Verwüstung durch den ganzen Basar gezogen. Das geisterhafte Wesen, das noch immer Seidentücher jagte, ging vorsichtshalber unter einem umgestürzten großen Korb in Deckung. Mit etwas Glück würde die alte Frau Kiana rechtzeitig von hier fortbringen, bevor sich die Händler rächen konnten.
„ So ist es gut, Töchterchen! Ich bringe dich jetzt zurück in die Trübe Welt, bevor wir weitere Schritte unternehmen, denn ich habe hier noch einiges zu erledigen, wobei ich nicht gleichzeitig auf dich aufpassen kann. Offenbar brauchst du mehr Beaufsichtigung, als ich befürchtet hatte. Aber um bei dir zuhause keine Unruhe auszulösen, müssen wir dich zuvor noch umziehen.“
Nichts wünschte sich Kiana mehr. Die alte Frau streckte ihre knorrige Hand aus, und sofort spürte Kiana einen starken Zug an ihren neuen Kleidern. Bevor sich ihre Überraschung in einem Aufkreischen Luft machen konnte, hatte sie ihr altes Kleid an, ihre alten Schuhe, ihre Burka.
„Setz dich mit geradem Rücken hin, Töchterchen!“
Kiana gehorchte, woraufhin sich ihr Teppich drehte und neben de n von Fatima glitt. Die Alte packte Kianas Handgelenk, und schon sausten sie zusammen über den Basar hinweg.
Hinter den Zelten kam die Wand in Sicht, durch die Kiana in diese Welt getreten war. Statt abzubremsen steigerte Fatima das Tempo. Ein Zusammenprall war unausweichlich. Die Mauer kam nah, näher!!! Fatima würde doch nicht … konnte doch nicht … nicht!!!!
D ann das Gefühl von Mörtel, Stein, Härte auf Kianas Haut, in ihrem Atem, in ihrem Blut, bis die Mauer sie wieder ausspie.
Augenblicklich war der Verkehrslärm wieder da, der a bgas- und uringetränkte Dunst der Großstadt. Der weite Ort ihrer engen Kindheit.
„Keine Angst!“, rief Fatima , die nun nicht mehr Kianas Hand hielt und dennoch irgendwie beide Teppiche den Hang hoch steuerte. „Wir fliegen so schnell, dass wir für das ungeschulte Auge nicht sichtbar sind.“
Krampfhaft klammerte sich Kiana am Teppichrand fest. Von den Lehmhütten, über die sie hinwegflog, erkannte sie nur verzerrte Brauntöne, bis der unerwartete Halt im Hinterhof von Onkel Abdullahs Lehmhaus sie vom Teppich fegte. Stöhnend kam sie auf die Beine.
Fatima streckte die Hand aus , woraufhin sich der Pfeilteppich von selbst zusammenrollte und in die Hand der alten Frau sprang. „Ich hole dich bald wieder ab, Töchterchen.“
Kiana kam nicht mehr dazu zu antworten, dass das keine Eile hatte, denn Fatima und die Te ppiche waren bereits verschwunden. Kiana glaubte lediglich, ein Flirren in der Luft wahrzunehmen, dann war auch das nur noch eine Erinnerung. Kiana brachte den Sitz ihrer Burka in Ordnung und betrat die Küche.
Tante Shabnam würde sie u mbringen.
In der Küche war noch alles so, wie sie es ve rlassen hatte. Die Stimmen aus dem Wohnzimmer verrieten, dass die Gäste noch immer dort saßen, Madina trocknete noch immer Gläser ab, und das Teewasser war gerade am Simmern. Wie konnte das sein? War das bereits das Wasser für den nächsten oder übernächsten Teeaufguss?
Aber das Teegeschirr stand noch genauso da, wie Ki ana es sich hergerichtet hatte. Als wäre sie nur einen kurzen Augenblick lang weg gewesen. Und nicht die gefühlten zwei Stunden im verrückten Bunten Basar.
War sie wahnsinnig geworden? Oder war sie draußen hingefallen - schließlich schmerzte ihr Kinn - und bewusstlos in diesen seltsamen Traum geglitten? Ja, so musste es sein. Das Wasser begann zu kochen, und sie goss es in die Teekanne. Auf einer Platte richtete sie
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