Goldfalke (German Edition)
sogleich wieder.
Ungehalten rollte Nesrin die Augen. „Nicht so , Alter! Du musst deinen Dschinn bei dir haben wollen, ihn zu dir hin denken.“
Jetzt wirkte auch Amir ungeduldig. „Und wie soll das gehen?“
„ Konzentrier dich einfach!“
Erst als Murat eine Zustimmung murmelte, schloss Amir die Augen und stand ganz still. Man hörte nur das Rauschen der Brandung und das Schnurren von Baski, die um Nesrins Beine strich.
„Da!“ Maimune zeigte auf eine Bew egung auf der Wasseroberfläche.
Zunächst war da nur ein Kräuseln, wie durch aufsteigende Luftbl asen. Dann schäumte das Wasser, als würde es kochen, und ein Kopf tauchte in der Gischt auf. Dann ein muskulöser Hals. Dann ein langer Körper. Es war ein Pferd, das da aus dem Wasser stieg und auf Amir zu schritt. Allerdings kein gewöhnliches Pferd. Die je nach Lichteinfall mal blauen, mal grünlichen Farbreflexe des an sich schwarzen Fells erinnerten ein bisschen an Fischschuppen. Oder es war ein Schuppenkleid, das wie Fell aussah.
Oder so.
Zwischen den wenigen, aber dafür umso dickeren Rosshaaren von Mähne und Schweif befanden sich hauchdünne Häute, so wie bei Flossen, die nur sichtbar wurden, wenn das Pferd wie jetzt mit dem Schweif schlug oder den Hals bewegte. Solche flossenartigen Auswüchse zierten, wenn auch kleiner, die Ellbogen und die Hinterseiten der Fesselgelenke. Vor Amir blieb das Tier stehen und senkte den edlen Kopf.
„Der Meerhengst“, hauchte Amir bezaubert und strich sanft über die Nüstern des Rappen.
„Ein starker Dschinn!“ Murat klopfte seinem neuen Freund anerkennend auf die Schulter. „Aber wie konnte sich dein Dschinn ausgerechnet zu einem Fischpferd entwickeln? Oder einem Pferdefisch?“
„Der Meerhengst ist ein Märchentier“, erklärte Nesrin. „Mein Ziehvater hat mir davon erzählt. Ich krieg die Story zwar nicht mehr zusammen, aber an den Namen Meerhengst kann ich mich erinnern.“
„Mein Vater hat mir die Geschichte oft erzählt.“ Amirs Stimme war noch immer ein atemloses Raunen. „Schon als kleines Kind habe ich davon geträumt, auf dem Meerhengst auf und davon zu reiten in ein verwunschenes Land voller Abenteuer. Allerdings …“, er runzelte die Stirn.
„ Was?“, fragte Nesrin.
„ Es heißt, man kann ihn nur zähmen, wenn man ihm, während er trinkt, die Hufe beschlägt, ihn sattelt und ihm eine Mütze aufsetzt.“
Nesrin rollte die Augen . „Etwas benutzerfreundlicher ging’s wohl nicht?“
„Aber da dieser hier nicht der Meerhengst aus den Geschichten ist“, meinte Maimune, „sondern von deinem Unterbewusstsein nur nach diesem Vorbild geformt wurde, gehorcht er dir auch ohne solche Faxen, da bin ich mir sicher. Schließlich ist er dein Dschinn.“
Nesrin strich über die feuchte Flanke des Pferdes. „Jedenfalls hast du einen sehr schönen Dschinn, Amir. Kommt, gehen wir! Ki und ich sind jetzt doch leider ein bisschen in Termindruck.“ Gefolgt von Baski marschierte sie los.
Als sich Amir in Bewegung setzte, trottete der Meerhengst brav hinter ihm her. Ja, er war wirklich ein wunderschönes Tier. Kraftvoll und stolz und märchenhaft. Selbst der weiße Elefant mit den geschraubten Stoßzähnen, der ihren Weg kreuzte, schaute dem Meerhengst gebannt hinterher.
Am Boden des Brunnenschachts angelangt stellte sich die Frage gar nicht erst, wie das Pferd aus dem Brunnen kommen sollte. Mit einem Satz sprang es hoch, verlängerte, streckte, verdünnte sich, und schon war es draußen.
Nesrin hob Baski auf und setzte sie auf ihre Schu lter. „Was ist los, Ki? Du siehst so angepisst aus, als wärst du in Ghulkotze getreten.“
Kiana fühlte sich ertappt. „Es ist nur …“, sie unterbrach sich, „ … nichts.“ Um nicht den Anschluss an Amir und die Zwillinge zu verlieren, griff sie nach der ersten Halterung an der Brunnenwand.
Doch Nesrin hielt sie am Arm fest. „ Sag schon! Du hast doch was! Machst du dir Sorgen wegen der paar Ifrit und Afrit in der Versunkenen Stadt?“ Nun waren nur noch sie beide im Brunnen.
„ Das auch, aber ...“ Plötzlich kraftlos sackten Kianas Schultern nach unten. Dann platzte es aus ihr heraus: „Warum hat Amir, der in eurer magischen Welt genauso ein Anfänger ist wie ich vor vier Tagen, einen so großartigen Dschinn bekommen? Und ich …“
„… und du hast dir deinen Winzling aus einer Felsspalte rauskratzen müssen“, ergänzte Nesrin in ihrer brutal offenen Art.
„Ja!“ Kiana fühlte sich gleichzeitig neidisch auf Amir und schuldig
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