Goldfalke (German Edition)
ihrem Küken gegenüber, weil sie es nicht genug wertschätzte. Ihre Hand wanderte zur Glasphiole auf ihrer Brust.
Nesrin stieg vor ihr die Brunnenwand hoch. „Das wundert dich, Ki? Nach allem, was du mir gestern Nacht über deinen und Fatimas Kurzbesuch beim Elektrohändler erzählt hast? Da, wie Sayed sagt, der Dschinn die Verkörperung deines Willens ist, was erwartest du, wenn er wie bei den Mädchen in eurem Teil der Trüben Welt dauernd unterdrückt wird? Wie soll sich da ein gescheiter Dschinn entwickeln? Bei den Jungs ist das offensichtlich anders. Anscheinend dürfen die bei euch etwas freier denken.“
Zähneknirschend musste Kiana ihr Recht geben. Amir traf seit frühester Kindheit Entsche idungen, suchte sich selbstständig Tagelöhnerarbeiten, um seinen Vater zu unterstützen, reparierte dies und das, lernte dieses und jenes Handwerk. Alles, was ein paar Münzen einbrachte. Oder auch nur eine warme Mahlzeit.
Obe n am Brunnenrand reichte Nesrin Kiana die Hand und half ihr nach draußen. „Bleib locker, Ki, dein Dschinn wird sich schon noch entwickeln!“
Kiana hoffte, dass sie die Zuversicht ausstrahlte, die sie sich selbst verordnete. Sie und Nesrin liefen an den anderen vorbei, die noch immer Amirs Meerhengst begutachteten, betraten den Palast über den Terrasseneingang und stiegen hoch zu ihrem Zimmer. Dort gingen sie auf die Toilette und nahmen von Avas Dschinn ihre Teppiche und ihr Reisegepäck entgegen. Kianas Bastkorb beherbergte den Proviant. Was Nesrins große Umhängetasche enthielt, wusste Kiana nicht so recht.
„Soll ten wir uns nicht umziehen?“ Skeptisch schaute Kiana an sich herab. Sie trug eine bestickte Pluderhose mit passendem Oberteil in Smaragdgrün, Nesrin etwas Ähnliches in Violett. Dazu gehörte immerhin je ein knielanges Tuch, das man als Umhang oder Schleier verwenden konnte und das nach Nesrin sowohl die Nachtfrische wie auch den Wüstensand abhielt. Auch wenn das kaum zu glauben war bei dem hauchzarten, fast durchsichtigen Stoff, der mehr der Schönheit zu dienen schien als einem praktischen Zweck. Oder gar der Schicklichkeit.
„Unser Outfit pa sst perfekt“, behauptete Nesrin. „Denn offiziell fliegen wir zur Karawanserei zu einem Einkaufsbummel. Falls jemand unseren Umweg zur Versunkenen Stadt bemerkt, geht der als pubertäre Mutprobe durch. Oder man hält uns für zu doof, den Heimweg zu finden. Auf jeden Fall wird niemand uns für eine Bedrohung halten. Damon schon gar nicht.“
Aus Rücksicht auf Kiana ging Nesrin zu Fuß die Treppe hinunter. In der Eingangshalle k amen ihnen Ava und Sayed entgegen. Ava schob einen Lederschlauch in Nesrins Tasche. „Das ist zusätzliches Wasser. Für den Fall, dass die anderen Flaschen nicht reichen oder kaputt gehen.“ Sie umarmte die beiden Mädchen. „Passt auf euch auf!“
„Du machst dir umsonst Sorgen, liebe Freundin “, meinte der Großwesir. „Wir waren uns einig, dass wir den beiden diese Aufgabe zutrauen.“ Als sein Blick zu den Mädchen schwenkte, verlor sich sein Lächeln im Ernst der folgenden Worte: „Diese Reise ist gefährlich, das wisst ihr, doch ich vertraue auf eure Fähigkeiten. Ich sehe es als einen Test. Wenn ihr Erfolg habt, seid ihr auch gewappnet für die Befreiung Elinas.“
„Und wenn wir keinen Erfolg haben“, ergänzte Ne srin, „sind wir eh am Arsch. Schon klar.“
Ava nahm Kianas Hand und legte etwas hinein, das sich wie ein Kieselstein anfühlte. „Nimm dies, bewahre es gut und verwende es mit Bedacht! Nesrin wird dir erklären, was es damit auf sich hat, wenn ihr in der Klingenden Oase Rast macht.“
Kiana bedankte sich und steckte das Geschenk in die Seitentasche ihrer Hose. Es war tatsächlich ein kleiner weißer Stein. Unscheinbar, aber anscheinend wertvoll. Irgendwie.
Die Runzeln um Sayeds Augen gewannen wieder warmherzige Tiefen. „Gute Reise, meine Kinder! Möge das Glück, das ihr euch bereits jetzt verdient habt, mit euch sein und euer Können zur Entfaltung und zum Erfolg bringen.“ Er strich jeder über den Kopf und ging mit Ava die breite Haupttreppe hoch.
Im Vorbeigehen fiel Kiana das große Mosaik auf. „Ich glaube, der Palast wünscht uns Glück.“
„Wie kommst du darauf?“, fragte Ne srin.
Kiana deutete auf das neue Bild im Bodenmosaik. „Schau, das Auge hier, das musst du sein. Hat nicht Sayed gesagt, du bist so was wie das Auge, das alles findet?“
Kritisch beäugte Nesrin die Stelle. „ Meinst du nicht, der dunkle Fleck kommt von einem
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