Goldfalke (German Edition)
…“
„Gute Wahl!“ Blitzschnell zog die Händlerin das Tuch aus Nesrins Hand und legte es Kiana um die Schultern. „Wirklich eine gute Wahl.“ So zügig, wie der Stoff aus ihren Fingern glitt, so fiel auch ihr Interesse von Kiana ab und legte sich ganz auf Nesrin. „Wird nicht deine Schönheit, kleine Schwester, von diesem zarten Gewebe treffend gewürdigt?“
Der Zweifel spielte mit Nesrins Gesichtszügen, als sie den Stoff betrachtete, den ihr die Tuchhändlerin hinhielt. Er war aus weißer Spitze und besetzt mit farblosen Kristallen, die wie polierte Eistropfen glänzten.
„Ein königlicher Hauch aus feinstem Garn“, setzte die Händlerin nach.
„Schön ist er ja.“ Nesrins Fingernagel kratzte an einem der kleinen Kristalle. „Aber bei me inen neuen Klamotten war schon ein Schal dabei, der für die Wüste taugt.“ Sie gab das Tuch der Händlerin zurück. „Vielleicht nehme ich ihn mit, wenn wir auf unserem Rückweg hier Rast machen. Ich überlege es mir noch. Aber den türkisfarbenen Fummel für meine Freundin kaufen wir. Falls …“, sie unterbrach sich kurz, „… der Preis angemessen ist.“
„ Du wirst den Preis sogar geringer als angemessen finden, kleine Schwester.“
Die Tuchhändlerin und Nesrin feilschten heftig über die Größe des Goldstücks, dann einigten sie sich, wie wohl auf allen Basaren aller Welten üblich, in der Mitte. Dem Lächeln der Händlerin konnte man entnehmen, dass sie mehr als gut bezahlt worden war mit der goldenen Münze, mit der man Onkel Abdullahs gesamte Jahresproduktion aufkaufen konnte.
Anmutig neigte die Tuchhändlerin den Kopf. „Ich danke euch, meine Schwestern, dass ihr bei mir vorbeigeschaut habt, und beglückwünsche euch zu dem guten Geschäft. Und, Nesrin, der weiße Schal mit dem Bergkristallbesatz wartet auf dich. Mögt ihr beide auf ewig mit Glück und Wohlstand gesegnet sein!“
Die Mädchen erwiderten ähnliche Wünsche und gingen weiter. Mit diesem Luxusgewebe um ihre Schultern fühlte sich Kiana wie eine Prinzessin. „Danke, Nesrin! Ich weiß gar nicht, was ich sagen …“
„Schon gut“, winkte ihre Freundin ab. „Hauptsache, das Teil steht dir und hält die Wüstensonne ab. Du entschuldigst mich kurz, ich muss aufs Klo. Hältst du mal?“ Sie drückte Kiana ihre Tasche und ihren Teppich in die Hand und verschwand durch die Holztür, hinter der die öffentliche Toilette für die Frauen lag.
Während K iana auf Nesrin wartete, lehnte sie sich an die steinerne Wand neben der Toilettentür und fühlte sich wie schon so oft in dieser Welt wie in einem Traum, der nach Duftlampen roch, der sich seidig auf Kianas Haut schmiegte, der in dem Lachen der beiden Kinder erklang, die zusammen mit ihren Eltern an ihr vorbei schlenderten. Wie ein Traum erschien auch die Erinnerung an den Kampf mit den Skorpionbestien. War das tatsächlich passiert? Fröstelnd zog Kiana ihren neuen Schal vor der Brust zusammen. Wie konnte die Nacht nur so kühl sein dort, wo tagsüber eine Ofenhitze herrschte?
„So spät noch auf?“ Diese Worte fielen auf Kiana z usammen mit dem Schatten desjenigen, der sie aussprach. Seine breiten Schultern blockten jegliches Licht ab. Sein Gesicht lag im Dunkeln, doch Kiana erkannte ihn an der arroganten Bedrohlichkeit seiner Körperhaltung und der Verächtlichkeit seiner Stimme.
Weil sie nach einem Tag wie diesem nicht die geringste Lust verspürte, Farids Ablehnung zu ertragen, beschloss sie, ihn wortlos stehen zu lassen, und wich zur Seite aus.
Die Bewegung, die sein Arm machte, war mehr zu erahnen als zu sehen, doch plötzlich entrollte sich sein Teppich, klatschte quer gegen Kiana und presste sie gegen die Wand.
Kianas Schr eck wich schnell der Entrüstung. Sie stemmte sich gegen den Teppich, doch der gab nicht einen Fingerbreit nach, sondern klebte sie fest gegen das Mauerwerk in ihrem Rücken.
Gemächlich wie ein Jäger, de r wusste, dass seine Beute ihm nicht entkommen konnte, stützte sich der Prinz mit seiner linken Hand neben Kianas Kopf ab. Mit dem rechten Zeigefinger strich er eine ihrer Haarsträhnen zurück. Die sachte Berührung fraß sich prickelnd bis hinunter in Kianas Zehenspitzen und legte alles in ihr lahm, was dazwischen lag: Stimmbänder, Atmung, Herz, vermutlich auch die Leber. Alles.
„ So verschreckt?“ Farids heiseres Flüstern streifte ihre Stirn. „Und du glaubst, es mit meinem Vater aufnehmen zu können? Wenn du dich gegen ihn stellst, stirbst du. Warum rennst du nicht stattdessen heim
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