Goldfalke (German Edition)
nichts.“ Sie sank in ihr Kissen zurück und widmete sich wieder ihrem Tee. „Bestimmt hast du dich g etäuscht.“
„Ja, wahrscheinlich.“ Doch ein Zweifel blieb.
„Schau, da kommt der Märchenerzähler!“ Nesrin zeigte auf einen alten Mann, der sich, gestützt auf den Arm des Teestubenbesitzers, auf einem erhöhten Platz niederließ. Sofort verstummte die Musik. Von draußen drang eine Gruppe Reisender herein und ergatterte sich die letzten noch freien Sitzmöglichkeiten. Rasch trat eine erwartungsvolle Stille ein.
Der Teehausbesitzer hob beide Arme. „Meine hochvereh rten Gäste! Auch heute wieder geben wir euch die Gelegenheit, eine Geschichte zu erzählen. Ist sie besser als die unseres ehrenwerten Piruz, ist eure Zeche und ein Nachtquartier umsonst. So hört zunächst Meister Piruz, den bisher besten aller Erzähler.“
„Na ja“, raunte Nesrin Kiana zu, „ich persönlich finde ja, dass Sayed jede Story gekonnter rüberbringt als der alte Knacker dort.“
„Einst lebte ein junger Mann“, begann der Märchenerzähler, „der machte sich auf die Reise, um sich ein Mädchen zu suchen, mit dem er eine Familie gründen konnte. Doch keine wollte ihn haben. Eines Tages kletterte er auf einen Baum, um sich eine Frucht zu pflücken. Und als er die Frucht aufschnitt, war für ihn keine Nahrung darin enthalten, sondern ein winziges, wunderschönes Mädchen. Sie verlangte eine Mahlzeit und etwas zu trinken, doch er hatte nichts dabei, und sie starb so schnell wie ein Wassertropfen auf einem glühenden Holzscheit.“
Der alte Mann schaute vorwurfsvoll in die Runde, als hä tten seine Zuhörer den tragischen Tod des Mädchens verursacht. Erst als jeder die Wucht der Schuld in sich zu spüren begann, redete er weiter: „Dann schnitt er eine weitere Frucht ab. Auch hier befand sich ein hübsches Mädchen darin, das ihn um Essen und Trinken bat. Er rannte los, um das Gewünschte zu besorgen, doch als er zurückkehrte, war auch sie tot.“
Piruz nahm einen Schluck aus dem Teeglas, das ihm jemand reic hte. „Beim nächsten Mal war er schlauer und legte sich Essen und Trinken zurecht, bevor er die nächste Frucht anschnitt. Als auch dieser ein Mädchen entstieg, konnte er ihr gleich eine Mahlzeit und ein Getränk servieren. Sie überlebte und wuchs binnen eines Augenblicks zu menschlicher Größe heran. Ihre Heirat dauerte vierzig Tage, und sie lebten fortan glücklich und hatten viele Kinder.“ Mit effektvollem Schweigen ließ er die Geschichte ausklingen.
„Was ist die tiefe Bedeutung des Märchens?“, fragte eine dünne Frau mit kunstvoll hochgesteckten Haaren. „Dass schlechte Vorbereitung harte Auswirkungen haben kann?“
„ Die Geschichte will euch ganz klar sagen“, meinte Alireza, der unterdessen in die Teestube gekommen war, „dass ihr alle vor eurer Abreise eine Satteltasche voller Extraverpflegung kaufen solltet. Man weiß ja nie, mit wem man unterwegs ein geselliges Mahl teilen kann.“
„Ich denke “, meldete sich eine ältere Dame mit einem wohlwollenden Lächeln, „die Erzählung will ausdrücken, dass jeder ein Recht auf Fehler hat. Und dass alles gut wird, solange man nicht aufgibt.“
Nachdenkliche Zustimmung murmelte sich durch die Re ihen der Gäste.
„Als ich Piruz zum ersten Mal diese Geschichte erzä hlen hörte“, erinnerte sich ein älterer Herr, der freundliche Augen und keine Haare auf dem Kopf hatte, „da ging es mir schlecht. Ich hatte gerade mehrere geschäftliche Fehlschläge hinter mir und jegliches Selbstvertrauen verloren. Aber dann sagte ich mir: Nimm dir den jungen Mann aus der Geschichte zum Vorbild! Mach einfach eine neue Frucht auf! Danach begann mein Gewürzhandel Fahrt aufzunehmen. Und jedes Mal, wenn ich jetzt eine Niederlage einstecken muss, sage ich mir immer: Mach einfach eine neue Frucht auf! Und das ist auch mein Rat an euch: Gleichgültig, wie schlimm es auch ist, macht einfach eine neue Frucht auf!“
„Das ist ein guter Rat “, rief der Teehausbesitzer. „Und an sich schon eine hervorragende Geschichte. Wer will sich als nächster mit der Erzählkunst des ehrenwerten Piruz messen?“
Ein schmächtiger kleiner Junge stand auf. Sein hellbraunes Hemd reichte ihm bis zu den Knien, und auch die Hose darunter schien ihm reichlich Platz zu bieten. Er wartete, bis sich aller Augen auf ihn richteten, und sprach: „Einst reisten zwei Freunde zusammen in die Fremde. Einer war freizügig und teilte sein Essen mit jedermann. Der andere war geizig und
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