Goldfieber
Späher den Pagen von Cortés mit der vermeintlichen Tlaxcaltekin heimlichtun sieht – und schon würden alle sie mit anderen Augen sehen! Zu ihrer Entlarvung als jene Todgeweihte wäre es dann nur noch ein winziger Schritt, aber dahin darf und wird es niemals kommen.
Ich schlendere durch den Innenhof, wo die tlaxcaltekischen Frauen und Mädchen unter dem Baldachin damit beschäftigt sind, unser Abendessen vorzubereiten. Ohne auch nur zu ihnen hinüberzuschielen, mache ich Carlita das vereinbarte Zeichen – Zeige- und Mittelfinger meiner herabhängenden rechten Hand zu einem kopfstehenden V gespreizt. Ich durchquere den Hof und gehe zwischen dem Badehaus und einem Lagerschuppen hindurch in den kleinen Park. Mein Herz klopft schneller, und in meinem Bauch spüre ich ein höchst angenehmes Ziehen, wie jedes Mal, wenn ich sie auf diese Weise anzulocken versuche. Nicht immer kann sich Carlita dann auch tatsächlich unter irgendeinem Vorwand davonstehlen – mehr als einmal schon habe ich in unserem Versteck vergeblich auf sie gewartet. Aber diesmal wird sie kommen, das spüre ich.
Ich schlüpfe in die kleine Rundhütte. Durch Ritzen und Astlöcher sickert Dämmerlicht herein. Es riecht nach warmem Holz und frisch geschnittenem Gras. Ich setze mich auf eines der Heubündel, die in dieser Hütte gelagert werden. Mein Herzschlag ist immer noch beschleunigt. Ich sehne mich so sehr nach ihr!
Im nächsten Moment kommt sie durch die Tür gehuscht und fliegt in meine Arme. »Carlita!«, flüstere ich und küsse sie und will sie gar nicht wieder loslassen. »Wie sehr ich dich vermisst habe!«, flüstere ich. »Du kannst es dir gar nicht vorstellen!«
Sie kauert vor mir im Heu, hält meinen Kopf zwischen ihren Händen und lacht mich lautlos an. »Und wie ich es mir vorstellenkann!«, flüstert sie und küsst mich aufs Neue. »Aber sag, Orte«, fordert sie dann, »weshalb hast du mir das Zeichen gemacht? Doch nicht nur, weil du mich küssen wolltest?«
»Auch umarmen und streicheln und fühlen, wie dein Herz unter meinen Fingern schlägt!«, flüstere ich in ihr Ohr. Wir küssen uns noch zärtlicher. Vom Hof her höre ich die tlaxcaltekischen Frauen rufen und singen.
»Ich muss zurück!«, murmelt atemlos Carlita und schiebt mich um Armesbreite von sich fort. »Also sag schnell, was ist bei euch da oben los?«
Ich berichte ihr alles, so gut mir das mit meinem hämmernden Herzen und dem Geschmack ihrer Lippen auf meinem Mund gelingt. »Wie recht du hattest!«, sage ich zu ihr. »Tenochtitlan ist eine Falle, tausendmal schlimmer als Cholollan! Unser Herr hatte ja bestimmt irgendeinen Plan, wie wir weiter vorgehen sollten, wenn wir erst hier bei Montezuma wären. Aber der hat die Stadt vor Tagen verlassen – vielleicht bereiten sie sogar schon einen Überfall auf uns vor! Und Cortés hat nun befohlen, dass wir hier im Palast eine Marienkapelle errichten sollen, um unseren Glauben zu stärken. Wir alle sollen überlegen, wo die Kapelle am besten erbaut werden soll – und dabei hat er gerade mich so bedeutungsvoll angesehen! Aber woher soll ich denn wissen …«, flüstere ich und die Verzweiflung überwältigt mich mit jedem Wort noch etwas mehr.
Carlita legt ihre Arme um mich und zieht meinen Kopf an ihre Schulter. »Wie gut ich dich verstehen kann!«, flüstert sie. »Aber wie gut auch ihn, deinen Herrn! Was gäbe ich nicht darum, wenn ich wieder in unserem Xochiquetal-Tempel wäre und vor dem blumengeschmückten Altar der gütigen Göttin tanzen und singen und beten könnte! Und was ist eine Marienkapelle schon anderes als ein Tempel für die Liebesgöttin?«, flüstert Carlita und verschließt ihren und meinen Mund mit einem weiteren zärtlichen Kuss.
»In früheren Zeiten muss es hier im Palast sogar einen Xochiquetal-Tempel gegeben haben«, fährt sie geraume Zeit später fort, »im Südflügel neben dem ›Klingenden Schrein‹, in dem damals die Muscheltrompeten und andere Musikinstrumente auf bewahrt wurden. Doch der einstige Tempelraum ist seit Langem zugemauert und dient nur noch als geheimes Lager für Bildnisse der verbotenen und entthronten Gottheiten. Ich weiß es von Tante Ixhuicatli«, raunt Carlita und klingt immer aufgeregter. »Sie selbst und einige andere Ringelblumen-Verschwörerinnen haben ja unsere Xochiquetal-Statue damals bei Nacht aus jenem Versteck geholt. Natürlich nicht sie allein, sie hatten Helfer im Königspalast, die die Wachen bestachen …«
So flüstert Carlita atemlos in mein Ohr.
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