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Goldgrube

Goldgrube

Titel: Goldgrube Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Lichter über dem Hafen sahen aus wie übriggebliebene Weihnachtsdekorationen. Über das leise Rauschen der Brandung hinweg konnte ich das Bimmeln einer Boje hören, deren blechernes Geräusch sich mit dem sachten Klatschen des Wassers gegen die im Jachthafen liegenden Boote vermischte. Viele Schiffe waren erleuchtet, und ihre Bewohner, die gelegentlich in mein Blickfeld gerieten, ließen mich an einen Wohnwagenpark denken, eine Gemeinschaft behaglicher Räume, die von außen Geborgenheit vermittelten. Dietz ging sehr schnell. Er hielt den Kopf gebeugt, hatte die Hände in die Taschen gesteckt, und seine Absätze klickten auf dem Bürgersteig. Ich hielt mit ihm Schritt, und in Gedanken ging ich durch, was ich über ihn wußte.
    Er war unter seltsamen Umständen groß geworden. Wie er mir erzählt hatte, war er auf einer Straße bei Detroit in einem Wohnmobil zur Welt gekommen. Seine Mutter lag in den Wehen, und sein Vater war zu ungeduldig gewesen, um eine Klinik aufzusuchen. Sein Vater war ein Raufbold und Schläger, der auf den Ölfeldern arbeitete und seine Familie von einer Stadt in die nächste verschleppte, wenn ihm gerade der Sinn danach stand. Dietz’ Großmutter, die Mutter seiner Mutter, reiste im jeweils vorhandenen Fahrzeug mit ihnen — einem Lastwagen, einem Wohnmobil oder einem Kleinbus, allesamt aus zweiter Hand und stets in Gefahr, liegenzubleiben oder eilig verkauft zu werden, wenn das Geld ausging. Dietz war mit Hilfe einer Sammlung alter Schulbücher unterrichtet worden, während seine Mutter und seine Großmutter Biere kippten und die Dosen aus dem Fenster auf den Highway warfen. Seine Abneigung gegen förmlichen Schulunterricht war etwas, das wir gemeinsam hatten. Da er so wenig Erfahrung mit Institutionen hatte, war er extrem aufsässig. Er ignorierte Vorschriften, weil er davon ausging, daß sie ihn nicht betrafen. Mir gefiel sein rebellisches Wesen. Aber gleichzeitig war ich auf der Hut. Ich war für Vorsicht und Kontrolle. Er war für Anarchie.
    Wir erreichten das Restaurant, den Tramp Steamer, ein enges und überheiztes Lokal, das eine schmale Treppe hoch in einem grauen Holzhaus lag. Man hatte sich ansatzweise darum bemüht, dem Lokal einen seemännischen Anstrich zu geben, aber die wirkliche Attraktion war das Essen: frische Austern, fritierte Garnelen, pfeffrige Muschelsuppe und selbstgebackenes Brot. Gleich neben dem Eingang gab es eine komplett ausgestattete Bar, doch der Großteil der Kundschaft bevorzugte Bier. Die Luft war erfüllt vom Geruch des Hopfens und von Zigarettenrauch. Bei der dröhnenden Musikbox, dem heiseren Gelächter und den Gesprächen konnte man den Lärm fast mit Händen greifen. Dietz sah sich nach Sitzplätzen um, drückte dann eine Seitentür auf und fand einen Tisch für uns auf der Veranda, die auf den Jachthafen hinausging. Draußen war es ruhiger, und die kalte Luft wurde vom roten Glühen der an den Wänden befestigten Propangasstrahler abgewehrt. Der salzige Geruch des Ozeans kam mir hier oben intensiver vor als unten. Ich holte tief Luft und sog sie in meine Lungen wie Äther. Sie besaß die gleiche beruhigende Wirkung, und ich merkte, wie ich mich entspannte.
    »Möchtest du einen Chardonnay?« fragte er.
    »Gerne.«
    Ich blieb am Tisch sitzen, als er wieder hinein an die Bar ging. Ich sah ihm durchs Fenster dabei zu, wie er mit dem Barkeeper sprach. Während er auf die Getränke wartete, wanderte sein Blick ruhelos über die Gäste hinweg. Er ging zur Musikbox hinüber und studierte die Auswahl. Dietz war der Typ Mann, der auf und ab geht und mit den Fingern klopft, weil in ihm ständig eine unterschwellige Energie brodelt und an die Oberfläche drängt. Ich sah ihn selten ein Buch lesen, weil er nicht so lange still sitzen konnte. Wenn er jedoch las, war er nicht ansprechbar und blieb völlig in seine Lektüre versunken, bis er fertig War. Er mochte Wettkämpfe. Er mochte Schußwaffen. Er mochte Maschinen. Er mochte Werkzeuge. Er mochte Bergsteigen. Seine Grundeinstellung war: »Wofür sparst du dich auf?« Meine Grundeinstellung war: »Nur nichts überstürzen.«
    Dietz spazierte wieder an die Bar zurück, stellte sich hin und klimperte mit dem Kleingeld in seiner Hosentasche. Der Barkeeper stellte einen Krug Bier und ein Glas Wein auf den Tresen. Dietz blätterte ein paar Scheine hin und kam wieder auf die Veranda heraus. Der Geruch von Zigarettenrauch wehte hinter ihm drein wie ein seltsames Rasierwasser. Er sagte: »Die Bedienung ist lahm.

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