Goldgrube
zwischen uns enger, und mittlerweile ist er für mich die beispielhafte Mischung aus Freund und Verwandtem.
»Möchtest du eine Tasse Tee?« fragte er.
»Nein, danke. Ich wollte nur kurz reinschauen und hallo sagen, bevor ich mich aufs Ohr lege. Sind das Familienfotos?« fragte ich und nahm aufs Geratewohl eines in die Hand.
»Angeblich«, sagte er. »Nell hat sie mir geschickt. Sie hat zwei Schachteln mit alten Fotos gefunden, aber keines davon ist beschriftet. Keine Namen, keine Daten. Sie hat keine Ahnung, wer diese Leute sind, und unsere anderen Geschwister auch nicht. So ein Chaos. Ich sag dir nur eins: Beschrifte alle deine Fotos, auch wenn es nur eine kurze Notiz auf der Rückseite ist. Du weißt, wer wer ist, aber sonst niemand.«
»Kommen sie dir vertraut vor?«
»Ein paar.« Er nahm den Abzug, den ich gerade betrachtete, und kniff die Augen zusammen, während er ihn gegen das Licht hielt. Ich spähte über seine Schulter. Die Frau auf dem Bild vor mir mußte Mitte Zwanzig gewesen sein, hatte ein breites, sanftmütiges Gesicht, und ihr Haar war hinten zu einem Knoten zusammengefaßt. Sie trug eine weiße Matrosenbluse, dazu einen wadenlangen Rock, dunkle Strümpfe und flache, dunkle Schuhe mit einer Schleife auf dem Spann. Neben ihr stand ein mißmutig dreinblickendes Mädchen von acht Jahren in einem Matrosenkleid mit tiefem Taillenansatz und knöchelhohen Schnürstiefelchen. »Ich glaube, das ist ein Bild von Augusta, der jüngeren Schwester meiner Mutter, aufgenommen in Topeka, Kansas, im Jahr 1915. Das Kind hieß Rebecca Rose, wenn ich mich recht erinnere. Sie und ihre Mutter kamen beide während der großen Grippeepidemie 1918 ums Leben.« Er nahm ein anderes Bild zur Hand. »Das ist meine Mutter mit meinem Großvater Tilmann. Es wundert mich, daß Nell die beiden nicht erkannt hat, aber womöglich hat ihre Sehkraft nachgelassen. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, weiß ich eigentlich gar nicht, wozu das eine Rolle spielt. Keiner von uns hat Kinder, also ist es doch nach unserem Tod gleichgültig, wer diese Leute sind.«
»Das klingt aber traurig. Warum klebst du sie nicht in ein Album und gibst sie an mich weiter? Ich werde so tun, als wären sie meine. Wie hieß er mit Vornamen?«
»Klaus. Meine Mutter hieß Gudrun.« Der Mann, der angestrengt in die Kamera starrte, muß Ende Siebzig gewesen sein, und die Tochter neben ihm dem Anschein nach in den Fünfzigern. Ich fragte: »Was ist Tilmann für ein Name? Ist er deutsch? Irgendwie habe ich immer gedacht, Ihr wärt alle Schweden oder Finnen.«
»O nein, wir sind keine Skandinavier. Das sind in meinen Augen trübsinnige Gesellen. Die Tilmanns sind von gutem deutschem Schlag. Eigensinnig, herrisch, streng und robust. Manche sagen, unmöglich, aber das ist Auffassungssache. Langlebigkeit ist genetisch, und laß dir bloß von niemandem etwas anderes erzählen. Ständig lese ich diese Artikel über Leute, die hundert Jahre alt werden. Sie halten es sich alle selbst zugute, behaupten, es läge daran, daß sie rauchen oder nicht rauchen, Joghurt essen, Vitamine schlucken oder einen Eßlöffel Essig pro Tag zu sich nehmen. So ein Unsinn. Abgesehen von Krieg und Unfällen lebt man deshalb lang, weil man von Leuten abstammt, die lang leben. Allerdings muß man Verantwortung für sich übernehmen und darf sich nicht irgendwelchen Exzessen aussetzen. Meine Mutter ist hundertunddrei geworden, und ich gehe davon aus, daß die restlichen fünf von uns ebensolang leben werden.«
»Du bist auf jeden Fall gut in Form. Wie alt ist Nell — sechsundneunzig? Und du wirst am Valentinstag sechsundachtzig.«
Henry nickte und machte eine Geste, als wolle er auf Holz klopfen. »Im großen und ganzen sind wir gesund, obwohl wir alle ein bißchen einschrumpfen. Wir haben schon darüber gesprochen und sind zu dem Schluß gekommen, daß die Natur uns deshalb schrumpfen läßt, damit wir im Sarg nicht soviel Platz brauchen. Man wird auch leichter. Fühlt sich an, als würden die Knochen Luft aufnehmen. Das macht es den Sargträgern leichter. Und natürlich lassen die Kräfte nach. Man wird blind wie ein Maulwurf, und das Hörvermögen schwindet. Charlie sagt, es klingt inzwischen, als hätte er andauernd ein Kissen über dem Kopf. Wenn du alt wirst, machst du dir am besten keine Gedanken mehr um deine Würde. Soweit ich es beurteilen kann, ist jeder, der von Würde für alte Leute redet, noch nie mit einem alten Menschen zusammengewesen. Auch wenn du deinen Mumm behältst,
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