Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
gedämpfter Stimme von unten. Georg beachtete ihn nicht.
Er schlug noch dreimal mit dem Ballen seiner rechten Hand vor den Rahmen, wobei er die Intensität seines Kräfteeinsatzes immer mehr steigerte. Nichts bewegte sich, nur Dreck bröckelte ihm entgegen.
»Mach doch nicht so einen Krach!«, schimpfte Paul, der noch immer die Leiter festhielt.
»Das Scheißfenster geht nicht auf!« Georg sah durch die Scheibe. »Aber der Griff ist noch umgelegt. Das kann ich genau erkennen.«
»Dann mach doch einfach. Aber bitte leise.«
Georg nahm jetzt beide Hände und drückte sie an den unteren und oberen Teil des Flügels. Nach mehrmaligem Ruckeln gab das Fenster nach. Georg schaute nach unten und hob den Daumen. Dann schob er den Flügel nach innen und kletterte ins Haus. Paul folgte ihm.
Sie schlossen das Fenster wieder und sahen sich im Büro um.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Paul ein wenig ängstlich.
»Jetzt halt doch mal die Schnauze!«
Georg ging zu dem grauen Stahlschrank und zog die oberste Schublade, in der sich viele graue Ordner in einer Hängeregistratur befanden, auf. Er holte die vorderste Akte heraus, setzte sich an den Schreibtisch des Alumnatsleiters und blätterte sie durch. »Das ist ja einfacher, als ich gedacht habe.«
Paul stellte sich hinter ihn und sah ihm über die Schulter.
»Also jetzt noch mal ganz langsam«, wurde Georg belehrend. »Wenn wir recht haben sollten und jemand spielt die Geschichte von Ritter Harras nach, dann suchen wir nach einem Vater, der nicht mehr für sein Kind verantwortlich ist, dem man es also weggenommen hat.« Er tippte mit seinem Zeigefinger auf die erste Seite der Akte, den Personalerfassungsbogen. »Guck mal, hier. Hier steht der Name des Kindes und dann … «, sein Finger wanderte weiter nach unten, »… Erziehungsberechtigte. Wir müssen doch einfach nur rauskriegen, wo der Nachname der Mutter mit dem des männlichen Erziehungsberechtigten nicht identisch ist. Dann wissen wir, um wen es sich handelt.«
Paul blickte auf den Aktenschrank. »Bei allen Akten?«
»Natürlich! Das geht doch schnell. Außerdem haben wir Zeit.«
»Ich muss kacken«, sagte Paul.
»Dann geh doch. Ist doch eh keiner mehr hier.«
Nachdem Paul zurückgekommen war, gingen die beiden Akte für Akte durch. Georg begann rechts unten bei Zuber und Paul oben links bei Abendroth. Nach über zwei Stunden, in denen sie sich viele Notizen machten, trafen sie sich ungefähr in der Mitte.
»Wie viele hast du?«, wollte Georg wissen.
Paul tippte mit dem Zeigefinger auf jeden Namen. »Zwölf, und du?«
»Zehn«, überlegte Georg laut. »Also zusammen 22.«
»Und was jetzt?«, fragte Paul neugierig.
»Lass uns die Namen noch mal durchgehen.« Er legte beide Zettel nebeneinander. »Kannst du nicht mal deutlicher schreiben? Du hast ja wirklich eine Sauklaue.«
»Jetzt fang noch an zu meckern«, zischte Paul. »Ich breche hier mit dir in den Kasten ein, riskiere meinen Arsch für deine schwachsinnigen Ideen und du meckerst noch rum. Ich glaub, ich spinne!«
»Ist ja schon gut.«
Georgs Blick war immer noch konzentriert auf die Listen gerichtet. »Lass uns doch mal alle Thomasser streichen, die älter als 16 sind. Ich glaube nicht, dass Väter von so erwachsenen Kindern noch derart ausflippen. Mit den älteren kann man doch schon reden.«
Er kramte einen schweren, alten Füllfederhalter aus Dr. Callidus’ Holzschatulle und strich langsam sechs Namen durch. »Bleiben immer noch 16 übrig«, stellte Paul fest. »Können wir die Liste vielleicht auch woanders durchgehen? Irgendwie würde ich mich besser fühlen, wenn wir hier wieder unerkannt verschwunden sind.«
»Moment noch. Lass mich mal eben überlegen. Wenn wir recht haben, suchen wir einen Vater, der nicht damit klarkommt, dass sein Kind jetzt bei einem anderen Mann aufwächst.«
» Wenn durecht hast«, korrigierte ihn Paul.
Georg beachtete Pauls Anspielung nicht. »Also müssen wir uns als Nächstes fragen, von welchen Vätern wir ganz genau wissen, dass sie keine Probleme mit ihren Söhnen haben, die also noch normal mit ihren Kindern umgehen, obwohl sie nicht mehr mit ihnen zusammenwohnen.«
Paul wurde unruhig. Er ging in Richtung Fenster. »Machen wir. Machen wir. Aber nicht hier!« Er öffnete langsam das Fenster und streckte vorsichtig den Kopf hinaus. »Die Luft ist rein. Lass uns hier abhauen.«
Georg schob die Listen zusammen, faltete sie zweimal und steckte sie in die hintere Hosentasche. Den Füllfederhalter von
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