Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
der Geschichte um Ritter Harras selbst herausgefunden zu haben.
Dr. Callidus überlegte lange. »Ich kenne die Geschichte sehr gut. Die Ähnlichkeiten sind wirklich verblüffend. Was ist Ihre Schlussfolgerung?«
»Ich glaube«, antwortete Kroll, »Anlass ist der Umstand, dass Harras befürchtete, seine Frau bekäme ein Kind von einem anderen. Mit der Nachahmung der Geschichte will der Täter Aufmerksamkeit erregen … , vielleicht irgendetwas bewegen. Und das kann eigentlich nur ein Vater sein, dessen Kind wahrscheinlich bei seiner Mutter und ihrem neuen Lebenspartner als Kuckuckskind aufgewachsen ist, ohne dass auch nur einer der beiden Männer eine Ahnung hatte.«
»Ein Kuckuckskind?«, vergewisserte sich der Alumnatsleiter.
»Und der enge Bezug zum Thomanerchor ist offensichtlich.« Kroll machte eine kleine Pause, bevor er fortfuhr: »Wir müssen herausfinden, wer das Kind ist und wer der Vater ist. Dann haben wir den Fall gelöst.«
»Und wie wollen Sie das anstellen?«
Kroll setzte sich auf die Fensterbank. »Ich hatte gehofft, dabei könnten Sie uns helfen.«
»Ich?«, Dr. Callidus war überrascht. »Aber wie sollte ich denn dabei helfen können?«
»Sie sind näher am Chor«, half ihm Wiggins auf die Sprünge. »Sie kennen alle Kinder und alle Eltern. Vielleicht haben Sie eine Vermutung oder zumindest einen Verdacht.«
Der Alumnatsleiter lachte freudlos. »Also, wenn Sie recht haben, und dafür scheint eine Menge zu sprechen, weiß das Kind nicht einmal selbst, dass sein offizieller Vater nicht sein leiblicher Vater ist. Und die Mutter wird einen Teufel tun, es mir oder jemand anderem zu erzählen. Und der leibliche Vater hat ja keinen Kontakt zum Chor.« Er schüttelte frustriert den Kopf. »Ich kann Ihnen beim besten Willen nicht helfen … , so gern ich es auch tun würde.«
»Wir müssen auf jeden Fall die Personalakten von allen Burschen durchgehen.«
Callidus zögerte einen Moment. Er schien sich immer noch nicht sicher zu sein, dass die Presseinformationen über Dr. Maschek nicht doch von den Polizisten kamen. »Das können Sie gern tun. Ich gehe davon aus, dass der Inhalt streng vertraulich behandelt wird.«
Er stand auf und ging in Richtung Tür. »Ich wollte eh gerade Mittag machen. Sie können gern mein Büro benutzen.«
Kurz bevor er die Tür schloss, blieb er noch einmal stehen. »Wann waren Sie eigentlich zum letzten Mal in der Kirche?«
Kroll und Wiggins sahen sich ein wenig verlegen an. Das schien Callidus als Antwort zu genügen. »Was ich mich nämlich die ganze Zeit frage: Selbst unter den Menschen, die regelmäßig unsere Kirche besuchen, dürfte das Epitaph von Ritter Harras nicht sehr bekannt sein. Und schon gar nicht seine Geschichte. Aber Sie, die die Kirche kaum kennen, haben auf einmal die ganzen Informationen. Und ich frage mich, woher?«
»Wir sind eben gute Ermittler«, lächelte Kroll.
Sie wurden durch das Klingeln von Callidus’ Telefon unterbrochen. Der Alumnatsleiter nahm den Hörer ab. »Callidus … bitte verbinden Sie mich … ja … hmm … das ist ja schrecklich.«
»Das war die Uniklinik«, erklärte er, als er wieder aufgelegt hatte. »Max Hamann hat eine schwere Lungenentzündung. Sie haben ihn auf die Intensivstation verlegt. Ich fahr da sofort hin. Sein Zustand ist sehr kritisch.«
Kroll atmete tief durch, nachdem Dr. Callidus sein Büro verlassen hatte. »Ich bin mir sehr sicher, dass unser Täter die ganze Situation unterschätzt hat. Möglicherweise wollte er nur ein paar mehr oder weniger harmlose Scherze machen, um auf seine Situation aufmerksam zu machen. Aber jetzt wird es langsam besorgniserregend.«
»Die Sache mit dem Wasserspender war doch alles andere als ein harmloser Scherz!«, entgegnete ihm Wiggins.
»Ja, klar. Aber vielleicht war ihm die Gefährlichkeit seiner Aktion gar nicht so bewusst. Kann ja auch sein, dass wir einen Täter suchen, der nicht gerade der Hellste ist.«
Das Studium der Akten brachte die Kommissare nicht weiter. Frustriert schlug Wiggins die letzte Akte zu. »Wir haben immerhin die DNA vom Täter.« Er atmete tief durch. »Fehlt nur noch die vom Kind und von der Mutter.«
»Ein Gentest im Thomanerchor? Dafür brauchen wir eine richterliche Anordnung. Da weist uns der Ermittlungsrichter nur mit einem müden Lächeln ab.«
»Das weiß ich auch. Aber vielleicht schaffen wir es ja doch auf freiwilliger Basis.«
Kroll schüttelte den Kopf. »Ich glaub nicht, dass wir da auf viel Gegenliebe stoßen. Ich hab’s
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