Goldkehlchen: Kriminalroman (German Edition)
Sie auch beweisen. Andernfalls würden Sie mich ja nicht grundlos verdächtigen. Ich nehme an, Sie hängen an Ihrem Job.«
Kroll erhob sich ebenfalls und sah aus dem Fenster. »Ja, ja, wir hängen an unseren Jobs, auch wenn die Wochenenden nicht frei sind. Aber Sie haben ja bestimmt auch keine 35-Stunden-Woche. So ist halt das Schicksal.«
Er drehte sich um und suchte den Blickkontakt mit dem Hausherrn. »Mit dem Schicksal ist das doch sowieso immer so eine Sache.« Er lächelte bitter. »Was ist Schicksal? Darüber streiten sich bestimmt die Philosophen. Vor ein paar Jahren hatten wir es einmal mit einem Bankdirektor zu tun, dessen Tochter entführt wurde. War das Schicksal? Oder der Fluch des Geldes? Oder mangelnde Aufsicht? Wer weiß das schon.«
Kroll ging einen Schritt auf Dr. Fleischer zu. »Oder stellen Sie sich einmal vor, ein Vater, der seinen eigenen Sohn über alles liebt, der für ihn vermutlich sein letztes Hemd geben würde, erfährt auf einmal, dass der Junge gar nicht sein Sohn ist. Nennt man so etwas auch Schicksal?«
Krolls letzte Bemerkung ging nicht spurlos an Dr. Fleischer vorbei. Er ließ sich langsam in den Sessel sinken. »Sie wissen also Bescheid. Ich habe mir schon gedacht, dass Sie das irgendwann herausfinden würden.«
Er stellte die fast leere Wasserflasche auf den flachen Wohnzimmertisch. Seine selbstbewusste Art war vollständig verflogen. Die schweißnassen Haare klebten an Stirn und Wangen. »Sie wissen ja gar nicht, worüber Sie reden. Sie haben ja nicht die geringste Ahnung, was das bedeutet.«
»Versuchen Sie doch mal, es uns zu erklären«, forderte Kroll ihn in sanftem Ton auf.
Dr. Fleischer schaute zur Decke, um sich zu beruhigen. Er rang sichtlich um Fassung. »Ich will gar nicht schlecht über meine Frau reden. Sie hat mich wahrscheinlich nur ein einziges Mal betrogen. Das ist lange her. Vermutlich ist das schon vielen Ehemännern passiert. Aber mit so schwerwiegenden Folgen hat sie mit Sicherheit nicht gerechnet. Es ist einfach eine beschissene Situation für alle, und keiner weiß, wie man damit umgehen soll. Deshalb hat meine Frau dieses Geständnis bestimmt auch so lange vor sich hergeschoben. Man kann es einfach nicht richtig machen, weil so unendlich viel zerstört wird. Aber Ludwig ist jetzt bald 15 Jahre alt. Auch er hat ein Recht, die Wahrheit zu erfahren.«
Dr. Fleischer stand auf, ging zu einer gläsernen Vitrine und goss sich einen Schottischen Whisky ein. Er genehmigte sich einen kräftigen Schluck, was in seiner Sportkleidung, die er immer noch trug, eigenartig aussah. Er stellte das Glas zur Seite und ließ sich wieder in den Sessel fallen. »Es ist eine lange Geschichte. Haben Sie überhaupt Lust, sich das alles anzuhören?«
Kroll setzte sich in den Sessel auf der anderen Seite des Tisches. »Bitte, Herr Dr. Fleischer. Wir haben viel Zeit.«
Dr. Fleischer atmete tief durch. »Der Verdacht kam irgendwie schon sehr früh auf, weil Ludwig mir überhaupt nicht ähnlich sieht. Wissen Sie, wie oft ich darauf angesprochen wurde? Ich habe mir anfangs gar nichts dabei gedacht. Ich wollte die Wahrheit auch nicht sehen. Ich hatte panische Angst davor. Aber Heidi hat sich auch manchmal komisch verhalten. Als ich im Ausland war, hatte ich immer über Skype mit Ludwig geredet. Dann hat sie mir das auf einmal verboten, und ich wusste gar nicht, warum. Es gab eigentlich viele Situationen, die komisch waren, die ich mir aber mit billigen Ausreden selbst erklärt habe, einfach, um der Wahrheit aus dem Weg zu gehen.«
Er rieb sich die Augen. »Aber irgendwann habe ich diesen inoffiziellen Test bei Dr. Baumjohann machen lassen. Das Ergebnis war natürlich ein Schock. Ich hatte immer noch gehofft, oder besser gesagt, gebetet, dass die Untersuchung bestätigen würde, dass ich wirklich Ludwigs Vater bin. Aber es war leider ganz anders, wie Sie wissen. Ich war tagelang nicht in der Lage, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Auch nicht bei der Arbeit. Ich habe meinen Mitarbeitern erklärt, dass ich unter Migräne leide, und die haben mir das zum Glück geglaubt.«
In seinen Augen sammelten sich Tränen. »Auf einmal läuft das ganze Leben mit deinem Kind an dir vorbei, wie in einem Film. Angefangen von der Geburt. Ich war noch nie so glücklich wie in dem Moment, als der Kleine zum ersten Mal geschrien hat. Und die Sorgen! Ludwig war gerade ein halbes Jahr alt, da hatten die Ärzte den Verdacht, dass er einen Herzfehler hatte. Er musste zwei Wochen zur Beobachtung im
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